Charles Lloyd Quartet | 03.06.2003

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Dieses Gesicht. Falten wie Holzschnitzereien, jede für sich ein anderer Lebensabschnitt, eine andere Geschichte. Schlohweißes Haupthaar, wettergegerbte, bronzefarbene Haut, in der sich seine indianischen, afrikanischen, mongolischen und irischen Vorfahren vereinen. Tieftrauriger Blick, die prismengleiche Summe an Weisheiten und Erfahrungen, nur durch eine Sonnenbrille verdeckt. So, als würde das ganze Leid der Welt auf Charles Lloyds Schultern liegen.

Und dann dieser Ton. Ein schimmerndes Etwas, das wie eine Rauchwolke durch den bis auf den letzten Platz besetzten Neuburger „Birdland“-Jazzclub zu schwebt. Wenn sich der Mann aus Santa Barbara zurücknimmt, deutet er nur an, anstatt mit viel Spucke und heißer Luft durchs Tenorsaxofon zu hecheln. Wenn er elegische Züge annimmt, klingt es, als würde er schreien. Ohne Kalkül. Einfach tief aus seinem Inneren, mäandernd auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und Pathos, Emotion und großer Kunst. So wie Lloyd bläst zurzeit keiner. Er berührt sein Publikum, weckt Empfindungen – weil er selbst dabei empfindet.

Das Konzert des Jahres und der Schlusspunkt des ambitionierten „Immens“-Festivals zu Ehren von Attila Zoller wird all jenen, die noch eine Karte ergattern konnten, lange im Gedächtnis bleiben. Als eindruckvollstes Manifest der reinen, unverfälschten Schönheit. Der einsilbige, Legenden umwitterte Ausnahmemusiker sprengt mit drei, vier Takten mühelos alle Schubladen. Im Laufe des Abends wildert er im Fundus der populären Musik Amerikas und stößt dabei auf altbekannte Ellington-Hymnen („Blood Count“), Spirituals („Go down Moses“), Folk-Klassiker („Amazing Grace“), Soul-Hits („What`s going on“ von Marvin Gaye) oder Kubanisches („Rabo de Nube“). Er schiebt sich förmlich zwischen die Themen, beleuchtet ihre dunklen und hellen Seiten, sucht verzweifelt die Schnittstellen, auf dass sie irgendwann, dem menschlichen Wesen ebenbürtig, harmonieren.

Viele kleine, phosphoreszierende  Klangwunder, die er in ausschweifenden, hymnischen Improvisationsnetzen in die Gegenwart führt; in seine Gegenwart. Und die besitzt viele verborgene Winkel. Sie zu ergründen, obliegt auch der wunderbaren Pianistin Geri Allen, dem fantasievollen Bassisten Robert Hurst und dem sensitiven Drummer Eric Harland. Die vier wirken wie Taube, Flamingo, Schwan und Adler, die im gemeinsamen Schwarm sonnendurchflutete Täler durchqueren, Regen und Hagelschauer passieren, sich den Unbilden von Kälte und Hitze aussetzen.

Lloyd, Allen, Hurst und Harland halten sich alle Flugrichtungen offen: traditionelle Harmoniefolgen, modernisierte Soundklischees, Backbeats, einfache Liedmotive, indische und Sufi beeinflusste Versatzstücke, beißende Skalen, schwerer Blues. Die seltsame, völlig ungewohnte Offenheit der Band rückt die Individualität ihrer Mitglieder noch mehr als sonst in den Mittelpunkt.

Vor allem nach der Pause. Da formiert sich wieder diese seltene atemlose Stille im intimen Hofapothekenkeller nach einem etwas lauten ersten Set, alle blicken wie gebannt auf Charles Lloyd. Und der hat in Neuburg wirklich einen großen Tag. Er spielt Soli voller An- und Wehmut, wie sie entrückter kaum aus einem Saxofon fließen könnten, kreiselt und trudelt verspielt von den unteren Registern in den Obertonbereich hinauf, verharrt, um einen kleinen Ton scheinbar unendlich in die Länge zu ziehen.

Das sind die Momente, in denen die Zeit still zu stehen scheint. Für eine unendlich lange Sekunde, in der Musik zur Fackel am Ende des Tunnels wird. Da braucht es trotz minutenlangem, frenetischen Beifalls auch keine Zugabe mehr. Es ist alles gesagt, alles gespielt. Mehr geht wirklich nicht.