Erst offene Münder, dann grinsende Gesichter, schließlich Faszination: Ana Brandão hat sich vor dem letzten Stück umgezogen. Die Haare sind anders, der durch eine Sonnenbrille im sowieso schon düsteren „Birdland“-Jazzclub verstellte Blick auch. Die linke Hand liegt eingebunden in einer Schlaufe. Optischer Alarm: Achtung, verletzte Frau!
Schnaubend vor Wut steht sie auf der Bühne, gestikuliert, geifert, schimpft in radebrechendem südländisch angehauchten Englisch: „Wherre is dis woman? She is herre, in Neuburg! In dis room!“ Dann schluchzt die Sängerin herzzerreißend, und mit ihr das gesamte Auditorium – vor Freude.
Ähnliches kennt man eigentlich nur vom Musical oder der Operette. Aber in der modernen Musik? Mit dieser kleinen, aber feinen szenischen Einlage hätte die zierliche 30-jährige Portugiesin wohl auch das gestrenge Publikum im nur etwa 150 Meter entfernten Neuburger Theater begeistert. So jedoch bildete ihr hinreißender Mix aus stimmlicher Improvisation und komödiantischem Talent das Finale Grande eines in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Konzertes im Hofapothekenkeller, dort wo normalerweise der klassische Jazz amerikanischer Prägung haust.
Es muss einer weisen Vorahnung entsprungen sein, dass „Birdland“-Chef Manfred Rehm schon im Programm eine stilistische Warnung platzierte: „Für Jazz-Puristen möglicherweise nur bedingt geeignet!“ Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – gab es dort einmal mehr keinen freien Platz und jede Menge frenetischen Beifall für eine Performance voller Emotionen, Humor, Melancholie und einem austarierten Maß an Dreistigkeit, mit dem Ana Brandão, ihr kongenialer Partner, der Bassist Carlos Bica, sowie ein inspiriertes Ensemble durch alle musikalischen Grenzen marschierten.
Bicas gestrichener Bass singt beispielsweise eine Melodie, die so einfach und traurig ist, dass sie einen in den Schlaf wiegen könnte. Als Gedanken an eine Schaukel auftauchen die, vom Wind angestoßen, leicht hin und her schwingt, wird das Bild mit einem Mal ausradiert. Der Song gewinnt schlagartig eine Strenge, die etwas Groteskes hat: ein von paradierend verschraubten Tangoschritten zerbrochenes Stakkato, von der Violinistin Katharina Gramms und dem Bratschisten Valentin Gregor vorangepeitscht.
„Eu não me“ („Ich verstehe mich nicht mehr“) heißt diese Komposition Bicas. Eine seltsam-hilflose Liebeserklärung. Sie möchte aufrichtig klingen, aber zugleich misstraut sie ihrem eigenen Pathos. Und übertreibt es. Jeder Titel klingt wie ein Mini-Soundtrack und besitzt ganz selten einen richtigen Schluss. Stattdessen verenden die Töne in einem langsam ausblutenden Kreislauf mit einem dicken, imaginären Fragenzeichen; das portugiesische Gemüt, bei dem vieles unausgesprochen im Raum stehen bleibt.
Die Streicher irrlichtern wie ein Rudel Glühwürmchen durch den Keller, während der brillante Pianist Joao Paulo ostinate Figuren von der Unendlichkeit einer Wendeltreppe in einem maurischen Castillio dagegen setzt. Grundlage allen Wirkens ist der Fado, die portugiesische Liedform, bei der die Takte mit träger, südlicher Langsamkeit wie durch ein Stundenglas rinnen.
Wunderbare Überraschungen jenseits allen Erwartungshorizontes gibt es zuhauf. Manchmal bewegen sich die Fünf wie auf Zehenspitzen, tänzelnd, grazil, zerbrechlich, dann wieder formen sie Bilder von wettergegerbten Gesichtern und kargen Berglandschaften. Den Pastellstrich zu Bicas grandiosem Tontheater besorgt das mäandernde Organ der nymphen-, elfen und sirenenhafte Ana Brandão.
Wie in der Zugabe, einer staubtrockenen, einsamen, leeren Bluesform, bei der Gramss urplötzlich in seine Bratsche drischt, als hätte er eine E-Gitarre in der Hand, und die faszinierende Ana grölt wie die selige Janis Joplin auf Urlaub in Portugal. Seltsam: Nach einem solchen Abend scheint es, als habe alle Musik dort ihren Ursprung. Auch der Jazz.