Brederode – Ineke Quartet feat. Harry Sokal | 03.03.2000

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Ein unendlich weiter, farbloser Flecken Erde, steinig und archaisch wie ein Bild aus der Genesis. Der Himmel wirkt bedrohlich finster, das Meer schlägt in meterhohen Gischtkronen ans Ufer, der Sturm peitscht mit ohrenbetäubendem Lärm um die Klippen. Untergangsstimmung. Nur das kleine Haus steht einfach da. Es trotzt den wütenden Naturgewalten Islands seit vielen Jahren mit fast stoischer Gelassenheit.

Ein Tag wie jeder andere am Ende der Welt. Aber für uns Mitteleuropäer immer noch das alptraumhafte Szenario, in dem sich einst die nordischen Sagen mit ihren Trollen, Feen, Geistern und anderen Fabelgestalten breitzumachen pflegten. Und für die Musiker des Wolfert Brederode-Eric Ineke Quintets der ideale Film vor dem geistigen Auge, für den sie einen Soundtrack voller düsterer Melancholie und offener wie geheimer Bezüge schufen. Die Apokalypse aus der Heimat des Bassisten Gulli Gudmundsson ziert auch das Cover der Premieren-CD der aus drei Holländern, einem Österreicher und einem Isländer bestehenden Formation, die jetzt im „Birdland“-Jazzclub Neuburg die Reihe der wundersam-sperrigen Hörabenteuer fortsetzte.

Wenn der junge Pianist Wolfert Brederode subtil in seine Wahnsinns-Komposition „Trinity“ eindringt, wenn sich der Trompeter Jarmo Hoogendijk und der Tenor-/Sopransaxofonist Harry Sokal in vergessenen Schattenspielen voller Spiritualität hin- und herjagen, wenn das subjektive Hörempfinden einen mehr zu zischenden Geisiren als zu brodelnden Jazz-Hörern leitet, dann entsteht ein seltsames Gefühl des Schwindels. Wolferode und seine Mannschaft evozieren eine Atmosphäre des unruhigen Dämmerlichts – wenn die Wahrnehmung geschärft ist, wenn sie aber auch anfällig wird für Täuschungen, Vexierbilder der Phantasie, Hirngespinste. Es ist eine Reise durch verschiedene Stadien der Verunsicherung, der Ungewissheit und Selbsttäuschung. Das Publikum taucht in eine Welt sorgsam abgestufter Grautöne und ihres Ausdrucks in der Musik. Konzentriert und frei von jeglichen Exkursen stellt die Band ihr gemeinsam erarbeitetes Konzept ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Ihre weiten, frei assoziierten Bögen kommen aus dem Nichts und schmiegen sich eng an die imaginären Räume, die aus Stille, Lärm, Freude und Trauer entstehen. In dem Schlagzeuger Eric Ineke und dem Bassisten Gudmundsson finden Bläser und Pianist Partner, die sich weniger als Rhythmusgruppe begreifen, sondern als Architekten eines Koordinatensystems, in dem nur wenige Akzente gesetzt werden müssen, um doch alle Energie dieser Welt pulsieren zu lassen. Hoogendijk kann dazu kraftvoll-verschlungene Linien in Ornette Colemans „Race Face“ blasen, Sokal in Ellingtons „African Flower“ bittersüße Melodiefragmente mit beißend-expressiven Skalenfolgen kombinieren, während Brederode in „Livigno“ gespenstische, harmonisch-modale Skulpturen meisselt.

Das multinationale Ensemble reist durch eine Welt bizzarer Stilzitate und surrealistischer Erinnerungen, für zwei anspruchsvolle wie kurzweilige Stunden realisiert mit souveräner Technik und hingebungsvoller Sinnlichkeit des Tons. In dieser Musik wird es nur selten hell. Dafür geht den wenigen, aber dafür restlos begeisterten Zuhörern endlich ein Licht auf, wo der oft zitierte, aber selten unmittelbar erlebte Zauber improvisierter Musik verborgen liegt.