Brazilian Experience | 01.10.1998

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

(Tag unbekannt!)

Ein originalgetreues brasilianisches Erlebnis, vermittelt durch einen Oldenburger, der niemals zuvor den Zuckerhut sah – welch vollmundig-abstruse Marketingstrategien können sich doch hin und wieder Musiker ausdenken, nur um ihre Kunst so publikumswirksam wie möglich zu lancieren! Die ehrliche Leidenschaft für Sonne, Samba und Carneval sowie das kompositorische Einfühlungsvermögen wird Florian Poser garantiert niemand absprechen. Aber was will ein gemeinhin als cool angesehenes Vibraphon denn in einem derart heißen Projekt?

Und es kommt doch toller: die zweite tragende Säule der im Neuburger „Birdland“-Jazzclub gastierenden „Brazilian Experience“ stammt ebenfalls von der Waterkant und bläst noch dazu die (gleichfalls in einer solchen Umgebung völlig unübliche) chromantische Mundharmonika: Hendrik Meurkens. Zwei steife Nordlichter also mit ihrem bedauernswerten Versuch, sich den Traum von südamerikanischem Jazz zu erfüllen? Gemach! Poser und sein Hamburger Co-Illusionist haben für ihren riskanten Trip in unbekannte Sphären entsprechende Sicherungen eingebaut: die augenblicklich wohl gefragteste brasilianische Jazzrock-Rhythmsection inklusive des brillanten argentinischen Trompeters Gustavo Bergalli.

So viel geballte Kompetenz schafft natürlich schon vom ersten Ton an das erhoffte authentische Feeling und erzeugt guter Laune en masse. Ein Pianovirtuose wie Helio Alves, der für gewöhnlich bei Joe Henderson verschlungene Blockakkorde konstruiert, würzte das scharfe Notenmahl mit vielen pikanten Singlenotes, der renommierte E-Bassist Rogerio Botter Maio besorgte den wummernden (manchmal etwas zu dominanten) Puls. Aber ohne Portinho, die Drum-Legende aus Botafogo, ginge von diesem Sextett nicht einmal halb soviel Energie aus.

Wie das kleine hagere Männlein mit der Baseballkappe rollende, schwitzende, angefunkte Brazilgrooves in Serie abfeuerte und damit die vereinigte „Experience“ wie eine Lokomotive vor sich hertrieb, das war allein schon jeden Pfennig des Eintrittsgeldes wert. Auf einem solchen knallbunten, aus Sound und Rhythmen gewobenen Fleckerlteppich fällt es dann auch jedem professionellen Instrumentalisten trefflich leicht, sich zu inszenieren.

Gustavo Bergalli, normalerweise ein blau-versonnener Lyriker, bediente diesmal vehement die Abteilung Attacke, um darauf dezent in die Melancholie des Tangos abzuschwenken. Durchaus gelungen, wie auch Posers spritzige, inspirierte Kreuzungen und harmonische Variationen im Stile Cal Tjaders oder Dave Samuels, die sich mit dem Temperament des Samba gut zu vertragen schienen. Zur vollen Blüte reiften des Leaders Qualitäten allerdings erst, als er sich auf sensible Dialoge mit Piano oder Harmonika („Sleeping Blossom“) einzulassen begann.

Apropos Mundharmonika: Hendrik Meurkens bildete an diesem Abend die (unerwartete) Achillesferse, weil seine sensibel-virtuosen Linien nur ganz selten Zugang in den flatternden Schmetterlingskäftig des Gesamtsounds fanden. Da wunderte es kaum, daß sich das Ensemble häufiger als gewohnt auf kleine kammermusikalische Einheiten reduzierte, um den mövenartigen Rufen der Harp in „Estate“ (mit Baß und Trompete) sowie in „Wave“ (mit Vibraphon) entsprechend Gehör zu verschaffen.