Birdland Radio Jazz Festival 2020 – Finale
Sebastian Sternal solo / Trio Francel – Morello – Faller / Kathrin Pechlof Trio | 21.11.2020

Donaukurier | Karl Leitner
 

Das Birdland Radio Jazz Festival des Jahres 2020 wird auf jeden Fall in die Annalen eingehen. Erstens weil es das zehnte seiner Art war, somit also eine Jubiläumsveranstaltung, zweitens weil es in den neun Jahren vorher noch nie ein derartiges Hin und Her um das Programm und die daran beteiligten Künstler gab und drittens, weil fünf von acht Konzerten vor stark gelichteten Reihen und die verbleibenden drei gänzlich ohne Publikum stattfanden. Der Grund dafür? Corona natürlich, was sonst in diesen Tagen, da durch das Virus und die daraus resultierenden Verbote der Konzertbetrieb gänzlich zum Erliegen gekommen ist.

Nein, gänzlich dann doch nicht, denn der Pianist Sebastian Sternal, die gemeinsame Band von Mulo Francel und Paulo Morello sowie das Kathrin Pechlof Trio treten an drei aufeinander folgenden Abenden unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf. Lediglich der Veranstalter, ein Techniker, ein Fotograf und die Presse ist zugelassen und die beiden Redakteure des Bayerischen Rundfunks, die die ersten beiden Abende aufzeichnen und den dritten in einer vierstündigen Sendung aus Neuburg live weltweit übertragen. Es kommt ja schon einer Sensation gleich, dass die Konzerte überhaupt stattfinden, nachdem doch Unterhaltungsveranstaltungen generell verboten sind. Und die Anwesenden sind ja im Grunde auch nur vor Ort, um ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Was ausdrücklich erlaubt und auch notwendig ist. TV-Übertragungen von Geisterspielen im Fußball sind ohne Trainer, Fernsehteam, Kommentatoren und Platzwart schließlich auch nicht denkbar. Komisch fühlt sich die Situation allerdings schon an.

Manfred Rehm hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diese drei Abende wenigstens für die Hörer an den Radiogeräten zu retten. Notfalls würde er das Festival auch mit null Zuschauern durchziehen, hatte er bereits im Vorfeld verkündet. Genau das tut er nun, findet aber sogar in der für die Musiker, das Publikum und nicht zuletzt für ihn selbst höchst unbefriedigenden Situation noch etwas Positives. „Wenn die Leute schon nicht zum Jazz kommen dürfen, dann muss der Jazz eben zu ihnen kommen,“ sagt er. Er geht von geschätzten 100.000 Hörern aus – zuerst denen aus dem Einzugsbereich des BR, nach Mitternacht aus ganz Deutschland via Nachtprogramm der ARD und aus der ganzen Welt übers Internetradio. Das ist nicht übel für den kleinen Club in der Neuburger Altstadt, die in Pandemiezeiten nächtens wie ausgestorben ist. Einzige Besonderheit: drei Übertragungswagen auf dem Karlsplatz unweit des Eingangs.

Zuerst hatte Rehm auch Bands aus dem Ausland im Programm. Nachdem offensichtlich war, dass die nicht würden anreisen dürfen, tritt an den drei verbleibenden Festivalterminen nun also eine Art Plan B in Kraft. Aber was heißt das schon, angesichts der Tatsache, dass das Birdland in Musikerkreisen ein dermaßen hohes Ansehen genießt, dass für jeden zu vergebenden Konzerttermin regelmäßig Dutzende von Anfragen eingehen. Und außerdem sind andernorts Clubs ja derzeit eh geschlossen. Nein, hier wird an diesen drei Tagen alles andere als ein „Ersatzprogramm“ angeboten.

Natürlich ist die Situation ungewohnt, für Zuhörer und Musiker gleichermaßen. Statt das typische Gemeinschaftserlebnis eines Konzerts zu haben, sitzt man abgeschottet auf seinem Stuhl und hat das Gefühl als spiele Sternal, dieser großartige Pianist, der immerhin dreifacher Echo-Preisträger und Professor für Jazzklavier ist, tatsächlich nur ganz allein für einen selbst. Ob man versucht, dabei dessen Improvisationslinien nachzuverfolgen oder sich einfach nur mit ihm treiben lässt, bleibt einem selbst überlassen. Der Bösendorfer Flügel klingt im leeren Saal noch beeindruckender als sonst. Das Gewölbe wird zu einem riesigen Klangkörper. Das sind Erfahrungen, die man ohne Corona vermutlich gar nicht gemacht hätte. Dennoch: Wenigstens handelt es sich nicht um einen Stream aus der Quarantäne, sondern ist live und fühlt sich „echt“ an.

Ebenso wie Sternal sind tags darauf der von Quadro Nuevo her bekannte Mulo Francel (Tenorsaxofon, Klarinette), Paulo Morello (Gitarre) und Sven Faller (Kontrabass) bester Dinge und dankbar, in Neuburg spielen zu können. Für die drei ist es das erste gemeinsame Konzert, überhaupt. Jeder steuert seine eigenen Kompositionen bei, wobei ein Schwerpunkt auf dem Erbe der Juden Osteuropas vor dem Hintergrund ihres Schicksal Mitte des 20. Jahrhunderts und dessen Einbettung in den Kanon des World Jazz liegt. Die Stücke, die quasi der Hauch der Dreißiger Jahre umgibt, sind besondere Leckerbissen.

Kathrin Pechlof, deren zweites Set live über den Äther geht, ist allein wegen ihres Instrument die Exotin des Festivals. Wie im Grunde vor ihr nur Alice Coltrane setzt sie ausgerechnet mit der Harfe neue Akzente in der Welt des Jazz. Ausgehend von sparsamen Skizzen, entwirft das Trio farbige, filigrane, fragile und zum Teil recht sperrige Stücke avantgardistischer Provenienz, die durchaus mehrdeutig interpretierbar sind. Kein leichter, aber ungemein spannender Stoff.

Als pünktlich um 23 Uhr der letzte Ton verklungen ist, stehen den Hörern daheim an dem Radiogeräten noch drei weitere Stunden mit Jazz aus Neuburg bevor. Aus einem eigens eingerichteten Studio im ersten Stock, hoch über dem Jazzkeller, schicken Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer vom BR Musik aus den vorab mitgeschnittenen Konzerten des Festivals über den Äther, dazu Interviews mit Musikern, Analysen und Einschätzungen von Musikkritikern, ein Gespräch mit Clubchef Manfred Rehm.

Corona ist für viele Veranstalter eine Katastrophe. Vor allem für kleine, unabhängige Clubs und Bühnen. Jetzt, mitten in der Pandemie, ist es besonders wichtig, dass sie beim ausgesperrten Publikum nicht in Vergessenheit geraten und präsent bleiben. Um das zu gewährleisten, zeigt sich das Birdland erstaunlich erfinderisch. Beim ersten Lockdown wurden Livemitschnitte auf dem clubeigenen Youtube-Kanal zur Verfügung gestellt – und auch wahrgenommen, was weit über 10.000 Zugriffe zeigen. Und nun zum zweiten Lockdown gibt’s Konzerte aus dem Club live und als Mitschnitte übers Radio. Das ist überaus erfreulich, aber dennoch: Der hoffentlich bald wieder stattfindende „Regelbetrieb“ wäre allen Beteiligten eindeutig lieber.