10. Birdland Radio Jazz Festival | 21.11.2020

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Ein runder Geburtstag ohne Publikum, aber mitnichten unter Ausschluss der Öffentlichkeit: Für das 10. Birdland Radio Festival hat es zum Finale am Wochenende trotz „Lockdown Light“ doch noch ein Happyend gegeben. Als die vierstündige Livesendung des Bayerischen Rundfunks direkt aus dem zweiten Stock der Neuburger Hofapotheke am Sonntagmorgen kurz nach zwei Uhr zu Ende ging, konnte man reihum in zwar müde, aber zufriedene Gesichter blicken. „Wir sind sehr zufrieden und glücklich, dass es am Schluss fast reibungslos geklappt hat“, freute sich Roland Spiegel, Jazzredakteur des Bayerischen Rundfunks, der mit seinem Kollegen Ulrich Habersetzer für die Aufzeichnung der insgesamt acht musikalischen Darbietungen, die Direktübertragung aus der Donaustadt und somit auch die mediale Verbreitung des „Jazz made in Neuburg“ verantwortlich zeichnete.

Mit einem cleveren Schachzug und einigen kurzfristigen Umplanungen hatte es Manfred Rehm, der Impresario des Neuburger Birdland-Jazzclubs, tatsächlich möglich gemacht, dass das Restprogramm des Jubiläumsfestivals trotz des seit 2. November bestehenden Spielverbotes über die Bühne gehen konnte. Fünf Konzerte fanden bereits im Oktober vor Publikum statt: das der South West Oldtime All Stars im Ingolstädter Audi Form (15. Oktober), des Quartetts des Trompeters Maik Krahl (23. Oktober), des Duos mit den beiden Italienern Rita Marcotulli am Piano und Luciano Biondini am Akkordeon (24. Oktober) – die einzigen ausländischen Gäste – , das des Gitarristen Ferenc Snétberger (30. Oktober) sowie des Pianisten Claus Raible mit seinem Trio (31. Oktober). Nachdem Rehm sein ursprüngliches Vorhaben, im Endspurt hauptsächlich auf italienische Künstler zu setzen, wegen der verschärften Reisebeschränkungen wieder kippen musste, lud er kurzerhand einige hochkarätige deutsche Musiker nach Neuburg ein. „Sie sollten spielen, als wäre es ein reguläres Konzert. Nur bleiben die Stühle vor ihnen leer. Und der BR schneidet draußen mit seinem Ü-Wagen jeden Ton mit“, erklärte der Birdland-Boss. Die Darbietungen trugen dann eben die formal korrekte Bezeichnung „Produktionen“.

Die ausgewählten Instrumentalisten und Bands dankten so viel Flexibilität mit völlig unterschiedlichen, aber jeder für sich wunderbaren Auftritten, die allesamt noch einmal zeitversetzt auf BR Klassik zu hören sein werden. Die ersten Ausstrahlungstermine stehen bereits fest, jeweils um 23.05 Uhr in der Sendung „Jazz Time“ auf BR Klassik: am 18. Dezember Marcotulli/Biondini, am 25. Dezember Snétberger, am 15. Januar Krahl und am 22. Januar der Pianist Sebastian Sternal, der zum Auftakt der „Geisterkonzert“-Serie eine bunt schillernde Solo-Performance ablieferte (wir berichteten im Hauptteil).

Noch nicht terminiert wurde unter anderem der Zeitpunkt, an dem das Trios um den Tenorsaxofonisten/Klarinettisten Mulo Francel, bekannt auch als Frontmann der überaus populären Formation Quadro Nuevo, des Gitarristen Paulo Morello und des Bassisten Sven Faller zu hören sein wird. Am Freitag traten sie im Birdland zum ersten Mal „offiziell“ in dieser Besetzung auf. Eine Win-Win-Situation, sowohl für das (imaginäre) Publikum wie für die Musiker selbst, die förmlich nach einer längerfristigen Lösung schreit. Die drei weltgewandten Bayern spielten sich die Bälle dank ihrer Routine, aber auch ihrer stupenden Virtuosität und ihrer ungekünstelten Spielfreude förmlich zu. Jeder steuerte seine eigenen teils autobiografischen Stücke bei. Im Falle des bekennenden Brasilien-Fans Morello blieben dabei vor allem das aus deutscher Fußball-Perspektive verschmitzte „7:1“ oder der „SAD Blues“, angelehnt an dessen Schwandorfer Autokennzeichen, hängen. Francel verstand es im menschenleeren Birdland grandios, träumerische Kompositionen wie „Ikarusʼ Dream“ oder „Goethes italienische Reise“ mit seinen lyrischen Saxofonlinien zu verknüpfen, während Faller sowohl mit seiner exakten Intonation und Bogenarbeit wie auch mit vertonten Geschichten verzaubern konnte. Besonders berührend dabei: „Daniel Laqueur“, die Liebesgeschichte seiner Münchner Oma, deren jüdischer Verlobter vor den Nazis nach Amerika flieht, 35 Jahre später wieder zurückkehrt und seine Angebetete endlich heiratet. Ein Abend der relaxten Superlative. Zehn Saiten und vier Saxofonklappen im inneren Einklang, nur aufeinander fixiert. Bitte unbedingt mehr davon!

Das Kontrastprogramm folgte tags darauf, bei dem erstmal eine Harfenistin, nämlich die Berlinerin Kathrin Pechlof, ihr Instrument im Hofapothekenkeller aufbaute. Was jedoch absolut keine Qualitätsminderung impliziert! Davon konnten sich die Zuhörer von BR Klassik sogar direkt überzeugen, wurde doch das zweite und wesentlich stärkere Set der gebürtigen Münchnerin live übertragen. Pechlof, der Altsaxofonist Christian Weidner sowie der Bassist Robert Landfermann demonstrierten dabei, dass sie so viel mehr als „nur“ Jazz können. Ihre Musik besteht aus mäandernden Linien, aus Fieberträumen zwischen Klassik und Avantgarde, zwischen kammermusikalischen Tupfern und atonalem Gewusel. Die Töne perlen wie Tropfen herab, verzögert, teilweise einzeln, wie in Zeitlupe. Ganz selten entwickelt sich daraus ein kurzer, aber heftiger Platzregen. Pechlof und ihren Mitstreitern ging es vor allem darum, sich, aber auch ihre Zuhörer herauszufordern, neue Wege des Spielens und des Hörens zu erforschen. Am Samstag konnten sie die Wirkung ihrer Musik nicht anhand von offenen Mündern oder geschlossenen Augen verfolgen. Dies hätten die drei jedoch allemal verdient gehabt. Vielleicht ja im nächsten Jahr.