10. Birdland Radio Jazz Festival – Im Coronamodus | 19.11.2020

Augsburger Allgemeine | Reinhard Köchl
 

Das Licht ist aus, der Kellerabgang liegt im Dunklen. Kein Schnaufen oder Räuspern ist zu hören, kein Gläserklirren oder Rutschen eines Stuhles. Steril? Muss wohl so sein, in Zeiten wie diesen! Offiziell steht das Ganze unter dem Motto „Produktion“. Aber in Wirklichkeit ist es immer noch ein Konzert, wenn auch das Wichtigste fehlt: die Menschen. Normalerweise säßen dort jetzt die Birdland-Stammgäste: die blonde Frau, deren Klatsch-Intensität ein bombensicheres Barometer für die Qualität jeder Darbietung darstellt, der Mann mit dem Backenbart und dem Porkie-Pie-Hut, der jedes gelungene Solo mit einem wollüstigen „Yeah“ quittiert, die Künstlerin, die Musiker gerne mit Bleistiftskizzen portraitiert, die Immer-zu-spät-Kommer oder die Sound-Fetischisten, die sich mit Vorliebe um die Stehplätze um den Haupteingang herum gruppieren.

Im Keller unter der Neuburger Hofapotheke haben sich an diesem Donnerstagabend zwei Journalisten, zwei Redakteure des Bayerischen Rundfunks, ein Fotograf sowie Manfred Rehm eingefunden. Sechs Leute lauschen diesmal dem Pianisten Sebastian Sternal, klatschen und versuchen wenigstens im Anschein den Eindruck von Öffentlichkeit zu erwecken, weil um den wuchtig-eleganten Bösendorfer-Flügel herum mehrere Mikrofone stehen, um die Darbietung für das 10. Birdland-Radio-Jazzfestival aufzuzeichnen und diese zum Ü-Wagen zu überspielen, der vor der Tür des Clubs an der Amalienstraße parkt. Rehm, Chef und Mitglied des Neuburger Birdland-Jazzclubs seit über 60 Jahren, kann sich noch gut an die Anfangszeiten im Keller erinnern, als zu manchem Freejazz-Konzert ohne Beschränkungen sogar noch weniger Leute kamen.

Sternal, die deutsche Hoffnung an den 88 Elfenbeintasten, Partner des Klarinettisten Rolf Kühn sowie amerikanischer Topmusiker, trotz seiner jungen Jahre Professor und Leiter der Jazzabteilung an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz, ist alles andere als ein Ersatz, auch wenn der 37-Jährige kurzfristig für den italienischen Kollegen Stefano Bollani einspringen musste. Der wiederrum hatte zuvor im Programm die Lücke für die in Paris lebende amerikanische Saxofon-Legende Archie Shepp gefüllt. Beide durften nicht anreisen. Grund: bekannt. Ursprünglich sollte der Piano-Solo-Abend sogar im Neuburger Stadttheater über die Bühne gehen. Dass er jetzt überhaupt stattfindet, obwohl derzeit bundesweit der Konzertbetrieb auf Eis liegt, ist vor allem Manfred Rehm zu verdanken. Der von Kulturstaatsministerin Monika Grütters im vergangenen Jahr mit dem Ehrenamtspreis der Bundesregierung ausgezeichnete Impresario des Birdland Jazzclubs Neuburg wollte das gerade begonnene Jubiläumsfestival trotz des Ende Oktober verkündeten „Lockdown Light“ nicht einfach sang- und klanglos auslaufen lassen. Rehm begann zu improvisieren – wie andere findige Jazzveranstalter. So wurde das Jazzfest Berlin in diesem Jahr komplett als Livestream beim Kultur-Spartensender Arte ausgestrahlt, der Münchner Club Unterfahrt schickt einen Großteil seiner geplanten Konzerte via Internet ins Wohnzimmer.

„Improvisation ist nun mal das Wesen des Jazz“, schmunzelt Manfred Rehm. „Dabei geht es mir vor allem darum, die Musikerinnen und Musiker nicht im Regen stehen zu lassen. Sie leiden am meisten unter dem Lockdown.“ Weshalb der 79-Jährige bei den „Geisterkonzerten“ von Sebastian Sternal und Co. auch die volle Gage bezahlt. Darüber hinaus konnte er eine enorme Solidarität unter den Jazzfans zur Kenntnis nehmen, die sich in einem rapiden Mitgliederzuwachs nach dem ersten Lockdown niederschlug. Seit September, als der Konzertbetrieb unter Einschränkungen wieder hochgefahren werden durfte, besuchten bis Ende Oktober 1200 Besucher 29 Veranstaltungen. „Und es gab keinen einzigen Infektionsfall, der auf uns zurückzuführen gewesen wäre“, betont Rehm. Dies und die unvermindert hohen Fallzahlen lassen leise Zweifel an der Wirksamkeit der Schließung kleiner Veranstaltungsstätten aufkommen. Für den Neuburger Veranstalter liegt das Geheimnis in einer effektiven Raumluft-Umwälzungsanlage. Im Birdland existiert eine solche bereits seit 1991, damals noch installiert, um die Nebelschwaden der Raucher zu beseitigen. Heute leitet sie alle elf Minuten Frischluft in das Kellergewölbe – und minimiert so das Infektionsrisiko deutlich.

Roland Spiegel, zuständiger Jazzredakteur beim Bayerischen Rundfunk und seit zehn Jahren enger Partner des Birdland Jazzclubs, ist „extrem dankbar dafür, dass Manfred in dieser schwierigen Phase wöchentlich nach neuen Lösungen gesucht hat.“ Eine generelle Absage sei deshalb nie zur Debatte gestanden, obwohl das Jubiläumsfestival angesichts der sich ständig veränderten Sachlage „das aufwändigste war, das ich je für den BR organisiert habe“. Dennoch ist auch Spiegel nach fünf bereits im Oktober aufgezeichneten Konzerten sowie zwei an diesem Wochenende angesetzten „Produktionen“ inklusive eine Livesendung aus Neuburg (Samstag, 22 bis 0 Uhr auf BR Klassik, Sonntag 0 Uhr bis 2 Uhr auf Bayern 2) hochzufrieden mit der improvisierten Geburtstagsfeier.

Normalerweise feiert man diese mit einer lauten Party, Menschen dicht auf dicht und jeder Menge Alkohol. Steht in diesem November alles auf der No-Go-Liste, war aber eigentlich auch zuvor in einem Club wie dem Neuburger Birdland kaum ein Thema. Stattdessen: eine besondere Darbietung. Sebastian Sternal lädt seinen handverlesenen Zuhörerkreis und die zahlreichen Zuhörer, die ihm zeitversetzt am Radio lauschen, auf eine betörende Klangreise ein. Da schweben virenfreie kristalline Klänge in „Calgary“ durch den Raum, entsteht eine angenehme imaginäre Nähe im argentinischen „Milonga“ und ein bisschen Sommer-Sonne-Strand-Sorglos-Feeling in „Coffee Bay“. Am zauberhaftesten jedoch entfalten die guten alten Standards wie „Embraceable You“ oder „The Way You Look Tonight“ ihre Wirkung. Ein besonderes Geschenk von Sternal an Manfred Rehm. „Sein Erfindergeist ist großartig. Kein Jammern, sondern einfach machen!“ Fast wie ein Wohnzimmerkonzert. Wohl dem, der improvisieren kann!