Bill Stewart Trio | 01.10.2005

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Es beginnt, wie es noch nie zuvor im Neuburger „Birdland“ begonnen hat. Verzerrte Fender Rhodes-Schwaden, dickflüssige Orgel-Magma, dazwischen ein paar Pianotupfer und ein flatterndes, scheinbar völlig aus dem Ruder laufendes Schlagzeug. Eigentlich würde jetzt nur noch Miles Davis mit einem spitzen, sphärischen Trompetenschrei fehlen, und die Imagination von der Auferstehung der psychedelischen Jazzrockwelt der Anfangssiebziger wäre perfekt.

Die Leute, die nicht wussten, was da auf sie zukommt, sitzen mucksmäuschenstill da, registrieren, dass sich die Hitze langsam legt und Kevin Hays ein paar luftige Schlaufen wie ein Echo hinter sich her zieht, bis sich Larry Goldings mit seiner Hammond fächerartig über die entwurzelten Akkorde legt. Das ist das Neue, das eigentlich Unerhörte: Klavier und Orgel, zwei eigentlich inkompatible, sich gegenseitig ausschließende Harmonieinstrumente, das eine akustisch, das andere elektrisch, suchen einen gemeinsamen Weg in der Schwerelosigkeit der improvisierten Musik. Ein sonderbares, fast schon abgehobenes Erlebnis, dem Superdrummer Bill Stewart, der Mann der 1000 chargierenden Rhythmen, die dringend nötige Bodenhaftung verleiht.

Er erdet die knifflige Legierung, baut mit seinem passgenauen, frappierend exakten Spiel Brücken und stopft Löcher, die zwangsläufig entstehen, wenn sich Antagonismen aneinander reiben. Doch mit Hays und Goldings sitzen zwei der versiertesten Vertreter ihres Genres hinter dem jeweils üppigen Tastenwerk. Die Orgel koloriert die wattierten Pianotupfer so nach, dass das matte Rot zu leuchten beginnt. So klingt der Edelstandard „It could happen to me“ nun mal, wenn ihn eine Allstarband wie diese mit ins Niemandsland nimmt.

Doch es kann auch in eine völlig andere Richtung laufen. „Don`t ever call me again“: ein Mördergroove. Stewarts Schlagwerk scheppert gefährlich, Goldings schiebt fette, tranige Blöcke aus der Hammond und Hays lässt flirrende Funk-Blitzlichter auf dem verzerrten E-Piano aufflackern. Das Ganze schwimmt förmlich in Adrenalin und wird dementsprechend im ausverkauften Hofapothekenkeller gefeiert.

Szenenwechsel auf dem Karussell der Extreme: „Nice and Slow“, der Edelschieber der Petticoat-Generation, fräst im 21. Jahrhundert eine tiefe Furche in jeden Dancefloor. Das stete Auspendeln zwischen Avantgarde und Tradition, zwischen Free und Funk, manchmal sogar Gospel, zwischen Abenteuer und Heimat irritiert und versetzt einen doch in ein sonderbares Glücksgefühl. Irgendwann im Laufe des zweiten Sets stellt Bill Stewart als geistiger Vater dieses wagemutigen Projekts die Frage „How long is Jazz?“ – und lässt sie unbeantwortet.

Dafür setzen er und Hays das alte Schlachtross „I fall in Love to easily“ in eine Zeitmaschine. Die Melodie klingt auf dem Bösendorfer-Flügel wie eine Spieluhr, während die Rechte auf dem Fender Rhodes verzerrte, morseartige Funksignale ins All absondert. Ein fernes, melancholisches Liebeslied, zu dem des Drummers Besen wie Herbstlaub rascheln. Danach natürlich wieder wummernde Orgelbeats, kribbelnder Shuffle und das Pfeifen im Wald des wunderbaren Kevin Hays, das als Ohrwurm zurückbleibt. Warum nur springen Musiker nicht öfter derart genial über ihren eigenen Schatten?