Bill Carrothers | 13.10.2000

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Wer Bill Carrothers noch nie gehört hat, der Auftaktsequenz einer seiner ziemlich verquasteten Elegien lauscht und danach eine möglichst treffende Kurzbeschreibung formulieren will, dem fällt spontan nur eines ein: Verkopfter Eklektiker. Mag sein, dass dies wenig charmant klingt, aber es ist so. Auf den ersten Blick.

Der zweite dagegen lässt einen schon wieder am eigenen Urteilsvermögen zweifeln, der dritte ganz tief in sich gehen, bis dann der vierte die unverstellte Sicht auf eines der größten Piano-Talente freigibt, die das beginnende 21. Jahrhundert dem Jazz geschenkt hat. Der Weg, um das Faszinosum Carrothers zu entdecken, ist in der Tat ein dorniger, ein durch und durch ergebnisorientierter obendrein.

Der 36-Jährige aus Minneapolis macht es einem alles andere als einfach, nicht auf seinen Platten, an keinem Ort der Welt und auch nicht im Neuburger „Birdland“-Jazzclub, dem leider nur zur Hälfte gefüllten Ort seiner jüngsten musikalischen Selbstfindung. Weil er nie einfach nur drauflos spielt und sich der oft erprobten Schemata anderer Kollegen bedient, sondern das Pferd grundsätzlich von seiner störrischeren Seite her aufzäumt. Dazu nimmt Bill Carrothers bevorzugt in Ehren ergraute, alte Schindmähren her und verwandelt sie mit Geduld, Mut und Fantasie in einen funkensprühenden Pegasus.

Die alten Standards, deren einstiger Zauber längst kaputtgespielt ist, erhalten mit Hilfe seiner Hände plötzlich ihren dezent glimmenden Schweif zurück. Sanfte Klaviermeditationen, die in Form und Atmosphäre wie Rezitate von Hegel oder Goethe wirken, streifen das Thema allenfalls. Carrothers kostet die Stimmungen aus, beleuchtet den alten Stoff von einer dunklen Seite und bestückt ihn mit gänzlich neuen Fixpunkten.

Dabei schlüpft er förmlich in die Tastatur, tief gebeugt, entrückt auf eine andere Bewusstseinsebene. Getupfte Notenwerte fliegen wie Federn durch die rauchige Luft des Hofapothekenkellers, das Schlagzeug des Holländers Dre Pallaerts tickt wie eine Wanduhr, der Bass des Amerikaner Doug Wise pocht, als wäre es ein kaltes Herz, während im Hintergrund leise eine Melodie heraufdämmert. Doch für den introvertierten Rising Star gibt es noch weitere Schlupflöcher, um dem Gleichklang zu entkommen.

Alles andere als rückenschonend, fläzt er sich in seinen Stuhl und serviert ein wuseliges, bienenschwarmartiges „Puttin`On The Riz“ als druckvolles Hörbild urbaner Hektik während der Rush-Hour. Oder die Broadway-Nummer „Alone Together“ – eine harmonische Entdeckungsreise, bei der Schlagzeug und Bass durch abenteuerliche rhythmische Verschiebungen stolpern, bevor sie Carrothers behutsam wieder auf den größten gemeinsamen Nenner, nämlich den Blues, zurückholt.

Hier liegt das eigentliche Geheimnis dieses in jeder Beziehung unkonventionellen Pianisten. Alles ist möglich, aber nicht alles ist auch wirklich nötig. Großer, visionärer Jazz in kleiner Besetzung, der den nötigen Raum zum Träumen gibt, der lahmen Fantasie endlich wieder Flügel verleiht.