Andaloucia | 12.11.2005

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Musik, so heißt es, ist nur dann gut, wenn sie Bilder zum Leben erwecken kann. Und diese Musik hat viele Bilder.

Flirrende Hitze, ein Himmel in staubigem Rot, offene Landschaften, Windmühlen, gegen die Don Quichote immer und immer wieder anreitet, rassige Frauen, heißblütige Männer, Liebe, Eifersucht: Das alles taucht in den Arrangements des französischen Pianisten Jean-Marie Machado auf und legt sich wie ein Film über die Tische im vollbesetzten Neuburger „Birdland“-Jazzclub. Für sein phänomenales Projekt „Andalucia“ hat der 44-Jährige einige der bekanntesten spanischen Klassikkomponisten reanimiert und ihre großen Werke in eine instrumentale Suite für ein international besetztes Jazz-Sextett gegossen. Im Fokus: Die traditionelle andalusische Musik, deren festlich schillernde Akzente, deren lyrischer Puls.

Doch, spätestens nach zwei atemberaubenden Stunden ahnt es jeder: Isaac Albéniz, den sie auch den iberischen Liszt nannten, war offenbar ein heimlicher Hardboper. Und auch Enrique Granados sowie Manuel de Falla mussten zeitlebens viel cooler gewesen sein, als es die strengen Regeln der Klassik erlaubten. Albéniz` weltbekanntes „Granada“ wirkt in Jean-Marie Machados Outfit jedenfalls wie eine schillernde Skulptur des modernen Jazz, eine Brücke zwischen den Kulturen, zwischen Brooklyn und El Albaicin. In quer gedrechselten Metren im 5/4-Takt rumpelt die Band durch die engen Gassen, hinauf zu den Höhlen von Sacromonte. Stolz wie Conquistadores marschieren die Bläsersätze vorneweg. Oder besser: Wie Männer auf der Balz. Machado tanzt auf dem Elfenbein Flamenco, derweil die wunderbar verzahnten Rhythmiker Bart de Nolf (Bass) und Jacques Mathieux (Drums) die Sonne noch um ein paar Grad mehr anheizen. Schweiß macht sich langsam auf den Handflächen des Zuhörers breit, selbst im diesig-kalten Novembergrau Deutschlands.

Jeder Song gerät zu einer Fremdenführung der besonderen Art. Da donnert urplötzlich ein feister, wütender Stier um die Ecke. Überfallartig, unvermittelt, ohne Fluchtmöglichkeit: Der amerikanische Posaunist Gary Valente, ein Unikum, ein Klangfetischist, ein assoziativer Musiker par excellence, treibt das Spiel mit den dampfenden Growls, den platzenden Noten und den lawinenartigen Glissandi auf die Spitze. Dramaturgische Finesse verrät die Wahl seiner Partner. Der wühlende, brodelnde wie ein Vulkan am äußersten Siedepunkt agierende englische Tenor- und Sopransaxofonist Andy Sheppard, der mit einem Lick ein ganzes Flammenmeer entfachen kann, sowie der poetische, gleichwohl scharfkantig phrasierende, aber leider nur spärlich eingesetzte deutsche Trompeter Klaus Stötter erzählen Geschichten voller Emotionalität, voller seltsam vertrauter Gefühle.

Es sind vor allem Jean-Marie Machados Geschichten. Kosmopolitische Quersummen eines klassisch ausgebildeten Jazzers, der im marokkanischen Tanger geboren wurde. Wunderbare Adaptionen großer Meister (De Fallas „Asturiana“ besitzt die Qualität, sich unauslöschlich in jedes Langzeitgedächtnis einzubrennen) sowie Kompositionen voller Farbigkeit und Tiefe („Spanish Ground“). Erinnerungen und mentale Selbstreinigungsprozesse. Wie Machados Klavierstil: eine Melange zwischen perkussiver Rasanz, malerischer Kühnheit und viriler Frechheit. Noch nie zuvor hat ein Pianist mit der Linken derart heißblütig die Saiten des offenen Flügels angerissen und gleichzeitig mit der Rechten ein wunderschönes Bekenntnis zu Spanien abgeben. Das Vermächtnis des Elfenbein-Toreros. Olé!