Krach, Lärm, Missklang. Über Takte hin aufgebaute Spannung entlädt sich explosionsartig in einem gewaltigen Schlussakkord. Joachim Kühn bearbeitet die Tasten des Flügels im Neuburger Birdland, setzt das finale Statement eines Stückes, einem ungeheuren Kraftakt gleich – Ruhe kehrt ein. Die elektrisierte Ruhe nach einem aufregenden Klangerlebnis. Schallwellen beben für Sekunden unhörbar nach. Erschöpft wendet sich der Pianist dem Publikum zu. Begeisterter Applaus löst die Konzertbesucher aus atemloser Starre. Hier findet Großartiges statt. Der aus Leipzig stammende Jazzpianist Joachim Kühn – Musiker von Weltrang, Duettpartner von Ornette Colemann, Träger des Echopreises 2011für sein Lebenswerk – ist im Rahmen der 65. Neuburger Barockkonzerte zu Gast im Jazzclub. Er gestaltet den Brückenschlag zwischen Jazz und Barock mit dem 142. Beitrag zur Reihe „Art Of Piano“. Und diese Verbindung zwischen Alt und Neu, zwischen durchkomponierter Strenge und höchster musikalischer Freiheit, zwischen Gemessenheit und Ekstase fließt Joachim Kühn, der nach eigener Aussage nie etwas anderes sein wollte als Jazzmusiker, offenbar wie selbstverständlich in die Finger. Selbstverständlich, aber nicht mit Leichtigkeit. Denn was der heute in Paris und auf Ibiza lebende Musiker am Klavier leistet, ist kein wohlgefälliges, oberflächliches Geklimper. Es scheint aus der Tiefe zu kommen. Woher auch immer. Joachim Kühn wirkt wie ein Medium, wie ein Überbringer der Musik, dessen Körper, dessen Hände etwas ausführen, das außerhalb seiner selbst entsteht. „Mir liegt daran, den Kopf auszuschalten“, sagt Kühn im Gespräch. Ein beeindruckender Vorgang der doch erst dann funktionieren kann, wenn die Spieltechnik, die Grundlagen, die Harmonielehre keine Rolle mehr spielen. Wenn die Welt der Musik im Körpergedächtnis verankert und vollkommen verinnerlicht ist. Mit der Chaconne (eigentlich Patita Nr. 2 d-moll für Violine) von Johann Sebastian Bach wird Kühn zum Grenzgänger zwischen den Epochen. Hin und her geht es, virtuos fragmentiert, zwischen Originalzitaten und daraus entstehender Improvisation. „Improvisation beinhaltet nicht nur Melodie, sondern auch Harmonie und Rhythmus“, sagt Kühn. Und tatsächlich sind es besonders die beiden letztgenannten Komponenten, die sein Spiel so spannend machen. Der Musiker, der 1966 anlässlich eines Jazzwettbewerbs in die Bundesrepublik kam und nicht mehr in die DDR zurückkehrte, hat inzwischen sein eigenes Harmonieschema entwickelt. „Verminderte Übermäßigkeit“ nennt er es. Darin gibt es für eine Tonart jeweils vier übermäßige und drei verminderte Akkorde. Eine rationale Erklärung für etwas, das in seiner Wirkung sehr emotional ist. Mit dem Titel „Django“ von John Lewis macht Joachim Kühn, der es eigentlich „nicht einsieht“ auf Standards zu improvisieren, eine erfreuliche Ausnahme. Eigenkompositionen von Musikthemen, die Kühn als „Plattform zum Abheben“ dienen bereichern das Programm. Zwei Zugaben fordert das Publikum. Am Ende die Antiklimax, die Reduktion: Ritardando, der Rhythmus verlangsamt sich, die linke Hand stellt die Arbeit ein, einzelne Töne, Pling…Piano, Pling… Pianissimo… Schluss. Ein Erlebnis.