So sieht das also nach 40 Jahren Ehe aus: Der Mann geht am Stock, während die Frau tänzelt. Langsam schlurft Alexander von Schlippenbach Richtung Piano, daneben kann es Aki Takase in einem knallig bunten Kleid kaum erwarten, dass es losgeht. Er ist 86 und sie 77. Als beide schließlich am Bösendorfer angelangt sind, ein paar Mal auf der langen Klavierbank hin und her rutschen, bis jeder seinen Platz gefunden hat, können sie endlich das Geheimnis ihrer langjährigen Beziehung vor dem staunenden Publikum im Birdland-Jazzclub ausbreiten. Und das hat es fürwahr in sich!
Da ist die Rollenverteilung: Einer haut drauf, die andere wehrt sich. Mal subtil, mal zornig, mal versteckt, mal direkt. Oder liebkosend. Das Faszinierende: Alles folgt intuitiven Regeln, bei denen keiner eine bestimmte Grenze überschreitet. Wut und Zärtlichkeit, brachiale Gewalt und filigrane Virtuosität finden unter den vier Händen des aufregendsten Pianisten-Ehepaars Deutschlands auf seltsame Weise immer zu einer stimmigen Balance. Denn Aki Takase und Alexander von Schlippenbach sind zwei Jazzpianisten von absolutem Weltruf, jeder für sich ein Säulenheiliger der Avantgarde, von ihrer Spielhaltung her erfrischend verschieden und unerschrocken neugierig.
Die eine liebt die heftigen stilistischen Sprünge, der andere den kalkulierten Tabubruch. Im Hofapothekenkeller präsentierten sie ihre vierhändigen Szenen einer Ehe auf dem Flügel zuletzt 2013. Seither hat sich kaum etwas verändert. Denn trotz all der Verwirrungen, der künstlich gesetzten Dissonanzen, der spröden Harmonien und des bewusst zur Schau gestellten Chaos, wissen die zierliche Japanerin und der knorrige Berliner ganz genau, wie der andere tickt. Deshalb geraten ihre Intermezzi stets zu kleinen Lehrstunden über Raumaufteilung, nonverbale Kommunikation, intuitive Reaktion und atemberaubende Geschwindigkeit. Und warum sollte es dieses Mal anders sein? Dennoch fallen Nuancen auf. Schlippenbach entfernt sich immer mehr von seinem legendären Ruf als Piano-Berserker, neigt inzwischen deutlich dazu, Melodien nachzuspüren, sie zu formen. Mal verliert er sich im Stride, mal schimmert seine große Liebe zu Thelonious Monk durch, mal zeichnet er auf dem Elfenbein einen gleißenden Sonnenuntergang nach. Äußerlich mag er inzwischen etwas gebrechlich wirken, aber die Finger flitzen wie eh und je, der Geist ist hellwach. Diesen Mann bei der Suche nach Tönen zu beobachten, wäre allein schon das Eintrittsgeld wert.
Aki Takase hingegen transportiert eine Wucht und Energie auf das Instrument, die nicht nur ihren Mann, sondern das gesamte Publikum mitreißt. Vor der Pause bezaubert sie mit ebenso eigenwilligen, nuancierten wie intimen Ellington-Interpretationen aus ihrer ganz speziellen fernöstlichen Berliner Sichtweise oder einer hochemotionalen Lesart ihres Lieblingsstücks „Ida Lupino“ von Carla Bley. Aus dem Ad Hoc heraus kreiert das zierliche Kraftpaket komplexe Formen und harmonische Zusammenhänge, die sie auf wundersame Weise auf einen vorzeigbaren Nenner bringen kann.
Und dann erst beide zusammen! Sie kämpfen, ohne sich dabei zu verletzen, fast spielerisch, ergänzen und wertschätzen einander, sodass ein faszinierendes Konglomerat aus atemberaubenden Tempo- und Harmoniewechseln von geradezu beglückender Unlogik entsteht. „Allegro Agitato“ klingt genauso, wie es heißt, in „Bach Factory“ domestiziert Takase den Leipziger Thomaskantor im rasenden Schweinsgalopp, der „Dialogue“ entwickelt sich zu einem launigen Streitgespräch mit vorgezeichneten Rollen, und als das Publikum eine zweite Zugabe erklatscht hat, kredenzt das Paar ein wildes, ungezähmtes „Just A Gigolo“, das in bebendem Moll beginnt und im himmlischen Dur endet. Ein eingespieltes, frenetisch umjubeltes Dreamteam. Bis dass der Ton sie scheidet.