Jeder Birdland-Stammgast kennt die üblichen Parameter für ein Jazzkonzert: Swing, dezente Lautstärke, gepflegte Harmonien, mehr Pausen als Noten, und ja nicht zu viel Gas geben. Aber heute ist alles anders. Der Mann am Klavier fegt wie ein Orkan über die Tasten, der Geiger schickt permanent zuckende Blitze ins Auditorium, der Bassist schnürt mit seinem robusten Ton ein kompaktes Groove-Paket und der Schlagzeuger lässt den Beat wie ein Rock-Drummer über die Snare statt über das Becken rollen. Hier rappelt es wirklich gehörig im Karton!
Was Wunder: Immer wenn der amerikanische Pianist Richie Beirach und der deutsche Violinist Gregor Hübner im Hofapothekenkeller gastieren, dann fällt das Gebotene auf erfrischende Weise völlig aus dem Rahmen. Ein Jazzkonzert nach Schema F? Nicht mit den beiden Ausnahmemusikern, die seit 25 Jahren gemeinsam auf unterschiedlichsten musikalischen Schlachtfeldern Seite an Seite stehen! Sie funktionieren auf symbiotische Weise, ähnlich einem gemeinsamen Organismus, ticken synchron, feiern drei Tage nach ihrem Neuburg-Konzert gemeinsam Geburtstag – Beirach seinen 75., Hübner seinen 55. – und leben auch noch in New York. Weil sich das kongeniale Tandem in jeder Hinsicht perfekt ergänzt, heißt das auch, dass es sich musikalisch einiges zumutet. Jeder besticht dabei nicht nur durch seine improvisatorische Extraklasse, sondern gräbt sich gerne in das Œuvre klassischer Komponisten ein, um deren Ideenwelten aus der Perspektive zeitgenössischer Offenheit zu interpretieren.
So gehören neben Stücken des großen amerikanischen Liederbuchs von jeher auch Beethoven oder Bartók zum Programm. Beirach und Hübner haben ihren Spaß am Ahnenwerk, zeigen in den Widmungen ihre Ehrfurcht vor der Größe der alten Meister, sind aber entspannt genug, um sich nach der Reminiszenz auch aus der Form heraus zu begeben, die Motive nur noch als Ahnungen zu verstehen, um dann mit viel Nachdruck zur improvisatorischen Aufarbeitung zu schreiten. Gleiches gilt für das entgegengesetzte Ende dieser Klangwelt. Irgendwann wird jedem der begeisterten Zuhörer an diesem besonderen Abend klar, dass die beiden zusammen mit ihren erprobten Partnern aus Richie Beirachs früherem „European Quartet“ – Hübners Bruder Veit am Kontrabass und dem immer wieder erstaunlich vielseitigen Drummer Michael Kesting – tatsächlich versuchen, eine große Klammer um E- und U-Musik zu legen. Dazu gehört jede Menge Mut und Vertrauen in die eigene Fantasie. Beirach schafft es, vom brettharten Rockidiom in Sekundenschnelle in ein melancholische Klassik-Thema hinüberzugleiten, während Hübners klassische Violinen-Ausbildung ihm eine unglaublich weite Range zwischen „dirty notes“ und edlem Bogenstrich ermöglicht. Exemplarisch stehen dafür die Standards „Softly As In A Morning Sunrise“ (traditionell) und „Footprints“ (modern), die zuvor noch niemand so unwiderstehlich treibend, so mitreißend gehört hat.
Ein Hammersolo folgt auf das nächste, ob in Beirachs bekanntester Komposition „Elm“ oder in der Zugabe, dem ukrainischen Schlaflied „Son proyshov krizʼ vikno“ (Ein Traum ging durch das Fenster). Es sind freundliche Hetzjagden, die da zwischen den beiden Seelenverwandten und ihren Freunden stattfinden, wahnwitzige Verfolgungsszenen, in denen die Protagonisten wie junge Hunde nebeneinander laufen, sprinten, hüpfen, aber trotz des atemberaubenden Tempos so exakt wie nur möglich in ihrer Ausführung bleiben. Dafür gibt es momentan keine Vergleiche. Überhaupt liegt die Kraft dieses Quartetts neben der instrumentalen Finesse im unbändigen Spaß an der intellektuellen Frech- und Freiheit, dem Zerlegen und Verschrauben des Bekannten. Richie Beirach, die Hübners und Michael Kesting beweisen einmal mehr, dass Musik vor allem dazu da ist, um sie herauszufordern. Immer und immer wieder!