Noch spannender als die Vita des Roberto Negro ist eigentlich nur die Musik dieses italienischen Pianisten und Komponisten: nie lässt sich vorausahnen, wohin und wie sich seine detailreichen Stücke bewegen könnten. Ständig lockt der in Turin als Sohn eines Unternehmerpaars geborene, im Kongo aufgewachsene und heute in Frankreich lebende 40jährige seine Zuhörerinnen und Zuhörer auf falsche Fährten. Mit lausbübischem Grinsen schlägt er einen Haken nach dem anderen, öffnet Wundertüte um Wundertüte. Es gehe ihm darum, sich und andere stets zu überraschen, wird er nach seinem umjubelten Konzert im Neuburger Birdland sagen.
Dort führte er die Musik zweier Alben auf: eines spielte er mit dem Quartett „Papier Ciseau“, das andere mit dem Trio „DaDaDa“ ein. Die auf diesen Werken enthaltenen Stücke sind ziemlich dada und oft auch erfrischend gaga. Roberto Negro traut sich was, erzeugt Spannung, weil er stets mit starken Kontrasten arbeitet. Seine Musik kann kindlich unbefangen und sehr spielerisch, im nächsten Augenblick aber wieder sehr streng und verdammt erwachsen sein. Sie ist mal unglaublich zart, mal brutal, mal frei improvisiert, mal ausnotiert, mal tief einatmend, mal von hechelnder Intensität, mal verwunschen und diffus, mal ganz klar und gerade heraus. Es steckt so viel an Information, Emotionen und versteckten Hinweisen in seinen einst aus Improvisationen entwickelten Kompositionen, dass sie stets mit einem langen Nachhall enden. Es dauert oft viele Sekunden, bis dann endlich ein Applaus losbricht, der in dieser Stärke im Birdland bislang selten zu war. Pure Hysterie.
Für seine cinematisch anmutenden musikalischen Abenteuer hat sich Roberto Negro die passenden Spielgefährten ausgesucht – zwei, die sich wie er selbst stets ergebnisoffen präsentieren: zum einen den vielleicht bedeutendsten Sopransaxofonisten seiner Generation, den 38jährigen Franzosen Émile Parisien, der mit vollendetem Ton zu spielen weiß, der unendlich viele Wendungen kennt oder neue ausprobiert, der elegant, aber auch mit rebellischem Schalk durch Negros Vorlagen kurvt. Und dann ist da – als Dritter im Bunde – der italienische Schlagzeuger Michele Rabbia. Wobei der Begriff Schlagzeuger eine nicht vollständig zutreffende Berufsbezeichnung für den 56jährigen ist. Natürlich gibt er auch mal den Rhythmus, den Puls vor, ist für Akzente zuständig. Meist aber dient Rabbia dem Trio als Soundzauberer, der Flächiges, sanft Schimmerndes beisteuert, der mit Stöcken, Besen oder bloßen Händen auf Trommeln, Becken, mit Klangschalen, gespanntem Bogen oder auch mit endlich einmal sinnvoll genutzten Plastiktüten gar Wundersames erzeugt. Auch Elektronik setzt er ein – so sensibel wie kaum jemand sonst heutzutage. Wo andere im Spiel mit den digitalen Möglichkeiten nur nerven, nutzt Rabbia sein Equipment zur sinnvollen Unterstützung: er verlängert manuell erzeugte Töne, gibt ihnen mehr Fülle und Raum, umspielt sie sanft.
Das Konzert von Roberto Negro, Émile Parisien und Michele Rabbia war nicht weniger als eine Sensation, war ein Auftritt, der noch lange, sehr lange nachwirken wird. Am Ende blieb die Frage, was wir vom Bandleader dieses Dreiers wohl noch erwarten dürfen? So viel sei schon einmal verraten: im Interview erzählte Roberto Negro, dass er gerade an Musik für ein großes Ensemble arbeitet, besetzt mit Klavier, Bass, Schlagzeug, Cello, Harfe, Vibrafon, Waldhorn, zwei Trompeten und Klarinette. Hoffentlich ist er mit diesem üppigen Klangkörper auch einmal im Birdland zu hören.