11. Birdland Radio Jazz Festival 2021 | 23.11.2021

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Es sind schwere Zeiten. Genauso wie andere Kulturschaffende bangt der Neuburger Birdland Jazzclub an diesem Wochenende, vor allem zum Finale der elften Auflage des vom Bayerischen Rundfunk im Radio übertragenen Birdland Radio Jazz Festivals. Möglicherweise steht der Kultur genauso wie anderen Lebensbereichen wieder eine Vollbremsung von Hundert auf null bevor, nachdem der Jazz-Zug gerade erst wieder richtig Fahrt aufgenommen hatte. Die Musikerinnen und Musiker scheinen noch einen Tick besser spielen zu wollen, ein Quäntchen mehr Herzblut zu investieren als sonst, das Publikum begegnet den letzten drei Konzerten mit einer seltsamen Mischung aus Trotz, Gleichgültigkeit, Sorge und dem flauen Gefühl, möglicherweise wieder länger auf diese Liveklänge verzichten zu müssen, die so sehr die Seele erbauen. Es ist wie ein Aufbäumen vor dem Unabwendbaren.

Nachdem der Schlussspurt des Birdland Radio Festivals im vergangenen Jahr komplett in die Zeit des Lockdowns fiel und vor leeren Stühlen ablief, sind nun wieder Menschen dabei. Aber wie lange noch? Diese Frage schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Hofapothekenkeller und beschäftigt auch die Moderatoren Roland Spiegel und Uli Habersetzer sowie Birdland-Chef Manfred Rehm in der vierstündigen Livesendung in der Nacht von Samstag auf Sonntag auf BR-Klassik und Bayern 2. Man dürfe den Kopf nicht in den Sand stecken, sagt Rehm, und nach Lösungen für die Zukunft suchen. Schon am nächsten Wochenende könne wieder alles dicht sein. „Das ist nicht gut“, findet der Impresario, zumal im Gewölbe eine vorbildliche Luftumwälzungsanlage installiert sei und alle Konzerte unter 2G-Regeln stattfänden. Aber wer nimmt das zur Kenntnis?

Einige Impfverweigerer unter den Stammgästen kommen nicht mehr, und auch am Donnerstag beim Gastspiel der deutschen Pianistin Anke Helfrich gibt es kurzfristige Absagen. Dennoch entwickelt sich vor den dünn besetzten Reihen ein fast berauschender Abend, nach dem man sich nicht zum ersten Mal fragt, warum Helfrich selbst nach einem Vierteljahrhundert immer noch als Geheimtipp durch die Jazzkeller der Republik geistert. Ihre Performance und die ihrer kongenialen Begleitband um den Posaunisten Adrian Mears (der mit seinem Zweitinstrument Didgeridoo markante Klänge aus seiner australischen Heimat einfließen lässt), den Bassisten Dietmar Fuhr und den Schlagzeuger Jens Düppe agiert kraftvoll, funkensprühend, modern und dennoch allzeit nahbar. Faszinierend die Hommagen auf Olympiasiegerin Cathy Freeman, einer 400-Meter-Läuferin, die den Aborigines angehört („Cos Iʼm Free“), sowie auf Martin Luther King („The Price“), bei der die Pianistin auf faszinierende Weise seine legendäre „I have a dream“-Rede wie bei einem Rapper unisono am Flügel begleitet. Ein Konzert, so vital und variabel wie das Leben.

Volle Reihen dann am Freitag, obwohl den Namen Louise Jallu eigentlich niemand kennen kann. Doch die 26-jährige Französin, hierzulande ein völlig unbeschriebenes Blatt, entpuppt sich als das wahre Highlight des Festivals. Es ist ein intensives Oeuvre, ein Frontalangriff auf die Seele, durchgeführt von vier Musikern, die wie ein lebendiger Organismus ineinander agieren und motiviert sind bis in die Haarspitzen. Die meisten hatten Tango erwartet, aber sie bekamen weit mehr: eine Prise Melancholie, aber auch schroffe Postrock-Metren an Gitarre und Cello (!) von Carsten Holzapfel, eine herbe Prise Jazz und jede Menge Individualität. Louise Jallu, deren defektes Instrument in letzter Sekunde von einem eilig aus dem sächsischen Klingenthal herbeigerufenen Bandoneon-Bauer repariert werden konnte, ist anders. Klar, eine Frau – im Gegensatz zu den Säulenheiligen Astor Piazzolla und Dino Saluzzi. Und sie steht, anstatt zu sitzen, lässt sich von jedem Ton mitreißen, wogt hin und her, bewegt den Kopf mit geschlossenen Augen im Takt. Ihre gesamte Struktur zerreißt das klassisches Bandoneon-Bild sanft, aber unmissverständlich. Sie und ihre musikalischen Kumpane lassen ihre Kompositionen wie Holzplanken auf dem offenen Meer treiben, während im Untergrund Bass (Alexandre Perrot), Piano (Grégoire Letouvet) und Cello/Gitarre (Holzapfel) wie Raubfische auf den richtigen Moment zum Angriff lauern. Zum Schluss dann „Libertango“, Piazzollas „Hit“. Natürlich Tango Nuevo, aber anders. Noch neuer, noch frischer, noch überwältigender.

Der Schlusstag. Die Inzidenz im Landkreis liegt bei über 830 – bei 1000 erklingt kein Ton mehr, die Lichter bleiben aus. Noch einmal das süße Gefühl von Livemusik auskosten, von flirrenden Gitarren, kratzenden Drums, wabernden Saxofonen. War der Auftritt von Timo Vollbrechts „Magic Fly“ tatsächlich wieder das letzte Konzert? Die zweite Hälfte sendet BR Klassik direkt aus dem Keller, die Musiker legen sich auf der Schnittstelle zwischen komponierter und improvisierter Musik ins Zeug, Vollbrechts mit seinem warmen Timbre, Gitarrist Keisuke Matsuno mit seinen gläsernen Linien, Pianist und Keyboader Elias Stemeseder mit seinen weiten Klangflächen und Drummerin Dayeon Seok mit ihren raffiniert verschachtelten Metren. Das Publikum klatscht enthusiastisch, was wahrscheinlich an der Livesendung liegt. Bewegte und bewegende Momente, impressionistische Passagen zwischen Indie, Neuer Musik und Jazz. Vollbrechts Stücken, die Namen tragen wie „Malaʼs World“ oder „Happy Happy“, haftet etwas Sphärisches an, sie wirken mitunter wie Soundtracks zu Träumen, glückselige, wie Alpträume. Eine nicht ganz einfach aufzunehmende Schlusskadenz. „Zum Glück noch alles geschafft“, lächelt Manfred Rehm. Er plant schon für das 12. Birdland Radio Festival.

Sendetermine für das 11. Birdland Radio Jazz Festival

Donnerstag, 20. Januar 2022, BR-Klassik: Dave Holland und John Scofield.
Freitag, 21. Januar 2022, BR-Klassik: Dameronia’s Legacy Allstar Octet.
Freitag, 18. Februar 2022, BR-Klassik: Noah Preminger Quartet.
Freitag, 25. Februar 2022, BR-Klassik: Rosario Giuliani und Pietro Lussu.
Freitag, 18. März 2022, BR-Klassik: Jasper van’t Hof Quartet.
Freitag, 25. März 2022, BR-Klassik: Louise Jallu 4tet.
Freitag, 22. April 2022, BR-Klassik: Anke Helfrich Trio/AdrianMears.