Roy Hargrove Quintet | 28.04.1996

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Es bleibt dabei: das schwarze Amerika hat den Jazz erfunden und der Rest kopiert nur. Wer je nach einem Beweis für diese im Prinzip unumstößliche These verlangte, der bekam ihn am vergangenen Sonntag im Neuburger Birdland Jazzkeller im Laufe eines über alle Maßen berauschenden Sonderkonzertes quasi auf dem Silbertablett serviert.

Die kompetente Antwort auf alle offenen Fragen in Sachen Gospel, Swing, Bebop, Hardbop, Soul und Blues – kurzum des gesamten musikalischen afroamerikanischen Erbes – in unserer Zeit heißt Roy Hargrove, ist 25 Jahre alt und bündelt mit geradezu unglaublichem Talent all jene Eigenschaften, nach denen tausende anderer Musiker ihr ganzes Leben lang vergeblich trachten: Persönlichkeit, Seele, Ausdruck, Erfindungsreichtum, und vor allem Feuer. Aber daß der von der Fachwelt gefeierte texanische Trompeter freilich überhaupt erst zu solch exzessiven dreistündigen Höhenflügen wie in Neuburg ansetzen kann, liegt in der Hauptsache an seiner überragenden Combo, der besten, die seit geraumer Zeit einem Weltstar des Jazz im Birdland zur Seite stand.

Für manche mag es Zufall sein, daß ausgerechnet fünf farbige US-Boys so elegant am Rande des Vulkans tanzen. Doch der richtige Fan kennt seine Pappenheimer und damit auch die verborgene Quelle des „echten“ Jazz. Und die liegt eben in den Ghettos von Harlem, den Übungskellern der Bronx und den Vororten von Kansas City, kurzum dort, wo sich die soziale Situation der amerikanischen Schwarzen merklich von der der Weißen unterscheidet und eine eigene Kultur herausschält. Hargrove und seine Mitstreiter freilich haben den Sprung aus den „Black Communities“ längst geschafft und sich zur besser verdienenden amerikanischen Mittelschicht emporgespielt. Mit freundlich distinguiertem Benehmen und Nadelstreifenanzug zwar, aber einem flammenden Bekenntnis zur eigenen Tradition.

Die Anbetung großer farbiger Idole erschöpft sich keinesfalls nur in Anleihen an deren Spielweise; der glänzende Pianist Charles Graig beispielsweise wirkt neben seinem flirrenden Funky-Blues-Stil auch optisch wie eine Reinkarnation des jungen Horace Silver. Bassist Gerald Cannon mit hinreißend virtuosen, bopigen Linien tut alles, um an Paul Chambers zu erinnern, während Drummer Karriem Riggins so frisch und steuernd agiert, wie weiland Philly Joe Jones. Am verblüffendsten präsentierte sich im Birdland jedoch der unwahrscheinliche Tenorsaxophonist Ron Blake. Outfit, ein mächtig reißender, zerklüfteter Ton und explosiv-soulige Soli hätten an diesem Abend Sonny Rollins unter Garantie alle Ehre gemacht.

Mit Roy Hargrove zusammen bastelte Blake obendrein eine Bläsersection, die mit ihrem bis auf`s i-Tüpfelchen abgestimmten Interplay, ihren akuraten Unisono-Sätzen und ihren erregenden Frage- und Antwortduellen entwaffnend die Unzulänglichkeiten der vermeintlichen Konkurrenz bloßstellen. Hargrove selbst, dieser Tausendsassa, hat sowohl Clifford Brown, als auch Fats Navarro, Dizzy Gillespie, Miles Davis oder Freddie Hubbard bis in die letzte Note studiert. Obwohl er seine gewaltige Technik stets selbstbewußt zur Schau stellt, gerät sein Spiel nie zur billigen Angeberei.

Hargroves Stärke und Einmaligkeit liegt vielmehr in seinem wohltuend warmen Feeling, das sowohl bei den feuerwerksähnlichen Up-Temponummern, bei den Swing-Diamanten wie „Stuffy“, bei den Balladen wie „How High The Moon“ oder bei der Zugabe „September in the Rain“ (mit einer erstaunlichen Gesangs-Scat-Einlage) jeden im Publikum tief im Inneren berührte. So etwas gelingt eben nur einem, der auf die Stärke seiner Identität bauen kann.