Michel Petrucciani Piano Solo | 04.05.1996

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Das Licht verlöscht und der Pianist betritt die Bühne. Behende entledigt er sich seiner Krücken, schwingt sich auf den Klaviersessel, sagt hastig „Good Evening“ und beginnt sofort zu spielen. So, als ob eine gewaltige Kraft den Weg ins Freie sucht, einer Explosion gleich, fliegen die Akkorde, prasseln die Läufe von einer Sekunde zur anderen auf das fassungslose Publikum hernieder. Einen Energieausbruch dieser Größe hätte niemand im vollbesetzten Neuburg Stadttheater diesem kleinen Mann zugetraut.

Michel Petrucciani ist behindert. Durch die heimtückische Glasknochenkrankheit ist er zum kaum ein Meter großen und nur 28 Kilo schweren Zwerg geworden. Ohne fremde Hilfe kann er sich nur schwer fortbewegen, Tourneen wie diese stellen für den 32jährigen Franzosen eine unendliche Qual dar. Lediglich seine Hände und seine Arme besitzen normale Ausmaße. Aber gerade diese Gliedmaßen ermöglichen es Petrucciani, aus dem Schattendasein seines körperlichen Leidens auszubrechen. Die Musik ist seine Lebensmotor. Sie hat aus dem vom Schicksal Gezeichneten einen selbstbewußten Menschen und einen absoluten Superstar des Jazz gemacht.

Als „Little Big Man des Jazz“ feiern ihn die Medien, und vor allem seit Michel Petrucciani regelmäßig bei der ZDF-Talkshow „Willemsens Woche“ live auftritt (erst wieder am Tag vor dem Neuburg-Solokonzert), kennt seine Popularität keine Grenzen mehr. Wer freilich hinterhältig behauptet, daß der ganze Ruhm möglicherweise nur mit seinem Äußeren zusammenhängt, der entlarvt sich selbst als Voyeur. Sein unvergleichliches Spiel, seine Beredsamkeit und seine Freigiebigkeit auf den Tasten haben den gallischen Virtuosen in einer imaginäen Rangliste längst an den meisten Pianisten dieser Welt vorbeiziehen lassen.

Petrucciani liebt den Exzeß. Er hat es eilig, will schnell alles sagen und eröffnet seinen spielerischen Kampf. Die Zuhörer sitzen wie festgenagelt, als ein Medley seiner Lieblingssongs jeden Winkel des Stadttheaters durchstürmt. Eine subtile Homage an Thelonious Monk taucht in der frivolen Bissigkeit von „My Funny Valentine“ oder „Les Feuilles Mortes“ auf. Das Pianoforte nimmt er zuweilen wörtlich, schlägt die Tasten mit der flachen Hand und kehrt mit ausgefeilten Akkorden zum Pianissimo zurück. Wie Skorpione tanzen die Finger aufeinander zu, um die ganze Jazzwelt und noch mehr einzufangen: die aufflammende Leidenschaft eines McCoy Tyner, den treffsicheren Witz eines Art Tatum und Fats Waller, die lyrische Empfindsamkeit eines Bill Evans, ja sogar die stupende Griffsicherheit von Horowitz und die selbstverliebte Überschwenglichkeit Ravels und Debussys.

„All diese Songs sind die Klassiker der Zukunft“ schwärmt Petrucciani nach jener 40minütigen emotionalen Eruption, gibt charmant mit trockenem Humor zu verstehen, daß ihn die vielen Hüstler im Publikum doch ein wenig stören und wendet sich eigenen Kompositionen zu. Die Triologie „Sun in Blois“ oder „Looking Up“ verraten viel über sein lebensbejahendes Wesen, aber auch über seinen besonderen Bezug zu Farben. Der Franzose läßt aus Tonfolgen Schattierungen entstehen, die Bilder von atemberaubender Schönheit ergeben. Als wolle er im Stile eines der großen Expressionisten an der Leinwand wüten, greift er mit der Rechten in die Baßbereich über, daß er fast vom Hocker kippt.

Auf der Bühne ist dieser unvergleichliche Virtuose in seinem Element. Mit seiner ungekünstelten Offenheit will der Harmonie-Süchtige zwischen Blues, Sinfonie und Bebop eine Brücke zu seinem Publikum bauen. In Neuburg dankten es ihm seine (neuen) Fans mit minutenlangen stehenden Ovationen. Denn wo Michel Petrucciani auftritt, fliegen ihm die Herzen zu. Er ist ein Zauberer. Aber einer, der immer mit offenen Karten spielt.