Tomasz Stanko Quartet | 31.10.2004

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Fast hat es den Anschein, als sei Tomasz Stanko glücklich. Eine Gefühlsregung, die dem „Man in black“, dem Meister der morbiden Tonalität, für gewöhnlich fremd ist. Wenn er so dasteht im Zentrum des Hofapothekenkellers, eingerahmt von seiner phänomenalen Band, dann huscht immer wieder ein verklärtes Lächeln über das Gesicht des 62-jährigen großen Überlebenden der einstmals ertragreichen polnischen Jazzszene.

Es ist das letzte Konzert des überaus erfolgreichen „Oktober Specials“, das der Neuburger „Birdland“-Jazzclub inzwischen geschickt als kleines, kontrastierendes Qualitätsfanal im Festivalkalender des Region platziert hat. Ein ganz besonderes Erlebnis. Stücke ohne Worte: Teile der inzwischen legendären „Soul of Things“-Variationen, dann noch verschiedene Lesarten des Themas „Song for Sarah“. Keiner kann sich dieser sensitiven Urgewalt einer Combo entziehen, deren musikalische Kraft problemlos mehr als diesen Keller wärmen könnte.

Drummer Michal Miskiewicz, Bassist Slawomir Kurkiewicz und Pianist Marcin Wasilewski – allesamt gut 30 Jahre jünger als Stanko – speisen ihren väterlichen Freund wie ein Generator mit neuen Ideen, ja neuem Leben. Der bläst seine Trompete deshalb noch eine Spur melancholischer, noch härter, noch abgründiger. Ein schwellender Charakterwechsel zwischen Aufbegehren und Genuss der Schönheit. Stankos Spiel ist grandioses Ohrenkino: Dramatik, Blut, Wasser, Luft, Staub, Spinnweben, kalte Verliese, sonnendurchflutete Blumenwiesen, Straßenlärm, Einsamkeit, das Lachen eines Kindes, das Weinen Tausender.

Sandige Schleiftöne voller praller Lyrik, knochig und doch einschmeichelnd, durchziehen jedes Thema; scharf in den Höhen, dann wieder gehaucht und rauchig, zart und brüchig oder schmetternd voller Schrunden. Dieser faszinierende Sound zieht einen Schweif an unaufgelöstem Ausdruck hinter sich her. Und unterstreicht noch in der simpelsten Phrase jenen schmalen Grat, der angelernte Technik und bloße Kunstfertigkeit von großer Musik abhebt.

Jeder der vier Musiker spielt meisterhaft. Kein Vordrängeln, kein egoistisches Maulaufreißen. Stattdessen rücksichtsvolle Leichtigkeit. Und dennoch: Wenn Wasilewski mit seinem unglaublichen Gespür für Time, Anschlag und Risikobereitschaft am Bösendorfer-Flügel ein Solo aufbaut, scheint es, als würde eine Lawine den Berg hinabrollen, während Stanko oben gerade zum wiederholten Mal den Vulkan ausbrechen lässt. Ein akustisch-emotionales Naturereignis.

Die bis dato unbeschriebenen polnischen Blätter sind überhaupt die Entdeckung des „Oktober Specials“. Allesamt Vollblutmusiker: sowohl der sensationelle, riesengroße Basslinien formende Kurkiewicz, wie auch der druckvolle, hochsensible Drummer Miskiewicz. Jahrhunderttalente, die mitnichten wie Flussgeister aus der Weichsel gestiegen sind, sondern vielmehr repräsentativ für die neue Saat stehen, die in ihrem Heimatland keimt.

Dabei wächst langsam wieder ein Jazzbiotop mit dieser ganz typischen, osteuropäischen Tristezza heran, in dem sich Ruhe, philosophische Gelassenheit und Leidenschaft zu wundersamen, traumhaften Klanglandschaften fügen. Jeder „Birdland“-Besucher wird dies nach einem solch unvergesslichen Abend ohne Zögern bestätigen können.