Tomasz Stanko New York Quartet | 27.04.2012

Augsburger Allgemeine | Reinhard Köchl
 

Irgendwie kommt einem der Mann da im Zentrum der Bühne schmal, klein, fast fragil vor. Aber war er nicht schon immer so? Sein Trompetenton: brüchig, sandig, manchmal sogar wie ein Schmerzensschrei. Keine wirkliche Überraschung. Und die Band swingt! Bislang für einen avantgardistischen Expressionisten wie ihn ein absolutes „No Go“. Mitnichten gediegen freilich, sondern eher gehetzt, brodelnd, frenetisch, urban. Im Prinzip wollte Tomasz Stanko das von Beginn an schon so haben.

Die Wiederkehr des polnischen Weltklassetrompeters in den einmal mehr restlos ausverkauften Neuburger „Birdland“-Jazzclub offenbart zwei Seiten eines musikalischen Genies. Die hinlänglich bekannte melancholische, mit der er ruhig atmend, träumerisch versunken seine scheinbar rastlose Suche nach der Wahrheit fortsetzt. Und eine andere, unerwartete, bei der ihn die Urgewalt der Großstadt durch die Häuserschluchten spült und er sich auf der Spitze der Welle als wahrer Meister der morbiden Tonalität erweist. Verantwortlich für dieses neue Grau in Stankos Klangfarbenkasten zeichnet sein New York Quartet: Der hinreißend spektakuläre Pianist David Virelles, der selbst schwächere Stücke mit seinem aberwitzigen und klug strukturierten Spiel zu kleinen Kunstwerken erheben kann, der unwiderstehlich vertrackt groovende Drummer Gerald Cleaver und der große, kontemplative Basslinien formende Slawomir Kurkiewicz.

Gerade im Interplay offenbaren die Vier ihre herausragende Klasse. Hinter gepressten Trompeten-Growls knistern Pianoläufe wie brennende Mülltonnen, pocht der Kontrabass, als würde einem in der nächsten Sekunde der Kopf zerspringen, während das Becken wie der Regen auf die Kanaldeckel hernieder prasselt. Wenn Virelles mit seinem unglaublichen Gespür für Time, Anschlag und Risikobereitschaft am Bösendorfer ein Solo aufbaut, scheint es, als würde eine Lawine den Berg hinabrollen, während Stanko oben gerade den Vulkan ausbrechen lässt. Ein akustisch-emotionales Naturereignis.

Der 69-Jährige tastet sich durch die Architektur jedes Songs wie durch einen dunklen Raum. Anfangs zögerlich, dann zunehmend sicherer, riskanter, bis er eine eigene Wahrnehmungsebene gefunden hat. Sein Instrument klingt dabei, als hätte er das Mundstück mit Schleifpapier umwickelt. Der einsilbige Pole erzählt Geschichten, kreiert Soundtracks, die irgendwo im Ostblock ihren Anfang nehmen und in Brooklyn enden. Europäische Nachdenklichkeit und amerikanische Coolness: Erst Tomasz Stanko führt einem schlagartig vor Augen, dass dies auch jene Ingredienzien waren, die einst Miles Davis zum innovativsten Trompeter aller Zeiten erhoben.