Steve Wilson Quartet | 12.01.2001

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Es war, wie es eigentlich immer sein sollte: Der Saxofonist setzt zum Solo an, und jeder versteht genau, was nun in ihm vorgeht. Aus seinem Horn strömen keine wirren, abgehobenen, selbstgefälligen Phrasen, sondern ausnahmslos erregende, fesselnde Geschichten von jenseits des Horizonts. Die Leute im ausverkauften Neuburger „Birdland“-Jazzclub genießen atemlos schweigend und mit geschlossenen Augen, saugen jedes Partikel dieser besonderen Atmosphäre auf, lassen sich einfach in die Takte hineinfallen. Sie gehen den Weg mit, den ihnen gerade Steve Wilson weist.

Warum kann es nicht immer so sein? Weil dieser unscheinbare, zurückhaltende Mann aus Hampton/Virginia derzeit leider den Status eines absoluten Unikats genießt, obwohl der Jazz als notorische Minderheitenmusik eigentlich von seiner Sorte Hunderte bräuchte, um endlich ins wohlverdiente Rampenlicht zu rücken. Wilson macht es einem in der Tat leicht, ihm zu folgen. Er hält inne, wann immer es nötig ist, setzt große, raumgreifende Pausen, verschwendet niemals Noten. Ein Konzert mit dem Tenor-/Sopransaxofonisten ist wie eine nachvollziehbare Fährte, die zu der ganz erstaunlichen Erkenntnis führt, dass man das Publikum nicht nur mit oberflächlicher Anbiederung an den Massengeschmack erreicht, sondern auch mit tiefgreifender Virtuosität auf höchstem Niveau.

Die Kunst der Reduktion: Steve Wilson und seine Begleiter geben diesem Begriff eine völlig neue Bedeutung. Bebopfetzen wickeln sich um dunkle Bluessäulen, kürzelhafte Segmente fliegen durch den Hofapothekenkeller. Ein Drumsolo des unglaublichen Adam Cruz, das zu allererst leise Akzente setzt, aber trotzdem über ein Maximum an Brisanz verfügt, liefert den Prolog zu „Turnin` the Corner“. Federnde Loups des herrlich walkenden Bassisten Darryl Hall werden von verwischten Fills auf dem Becken empor gelupft, von fordernden Blockakkorden des grandiosen Pianisten Bruce Barth dezent angeschoben. Dieses Trio agiert so innerlich symmetrisch, wie noch selten ein anderes zuvor im „Birdland“ und klingt wie ein großes Instrument, das nur den Namen „Rhythmus“ trägt.

Wilson könnte sich darin bewegen, wie der Hecht im Karpfenteich, alles um ihn herum mit seinem mächtigen Ton einfach auffressen, wie dies viele Kollegen gedankenlos tun. Dass er sich stattdessen wie bei „Origin“, der Band von Chick Corea, auf den Part des Erzählers konzentriert und seine Partner in ständig wechselnde Rollen schlüpfen lässt, unterstreicht seinen absoluten Ausnahmestatus. Bei dem jungen Saxofonisten steht nur die Musik im Mittelpunkt, ihr Ausdruck, die emotionale Kraft der vertonten Gedanken.

Jedes Stück birgt eine Pointe besonderer Art: „Lexter“, bei dem der unwiderstehliche Groove mehr schwebt, denn marschiert und klingt, als würden Elefanten zu fliegen beginnen, die ergreifende Ballade „Grace“, die mit jedem Takt scheinbar eine Wolke höher klettert, oder das geheimnisvolle „La Blue Belle African“ mit der Leuchtkraft eines Sternenschweifs. Als Adam Cruz hier auf der Steeldrum (!) einen verlorenen Schlusskord mitten in der Seele der Zuhörer platziert, kommt unmittelbar danach nur ganz vorsichtiger Applaus. Als würde Klatschen jäh diesen wunderbaren Zauber zerstören.