Man sollte als Birdland-Gast nicht den Fehler begehen, ausbleibenden Beifall nach einem Solo mit Desinteresse oder gar ungenügender Leistung der Instrumentalisten gleichzusetzen. Gerade das Quintett des Schlagzeugers Peter Gall darf bei seiner Rückkehr nach 2018 (damals beim Birdland Radio Festival) in den voll besetzten Hofapothekenkeller vor einem Publikum performen, das wirklich zuhört, das keine ausgelassene Klatschparty veranstaltet, sondern die Nuancen der Musik einer der augenblicklich interessantesten Jazzformationen Europas erspüren will. Um dann plötzlich wie ein Raver in Trance zu geraten.
Der in Bad Aibling geborene Gall zählt zu den interessantesten Schlagwerkern der Republik, weil er das krasse Gegenstück eines egomanischen Haudrauf-Clowns darstellt. Man kann sich sein Drumming und seine Kompositionen in etwa wie die Münchner Eisbachwelle vorstellen, also wie ein Stauwasser, auf dem Surfer gegen den Strom auf einer glasgrauen Wasserwalze herumreiten. Wenn Gall also einen Rhythmus entwickelt, folgt der weder den traditionellen Songstrukturen noch den Bedürfnissen der Mitmusiker. Er kommt da in einen Fluss, wo sich die Kollegen an den wirklich höllisch schwierigen Harmonien und Themen seiner Kompositionen abarbeiten. Zum Glück sind die vier anderen in seinem Quartett aber allesamt ausgesuchte Könner. Allein die Kadenzen, die Pianist Rainer Böhm am Bösendorfer-Flügel und am Keyboard improvisiert, sind Mini-Tour de Forces der Harmonielehre. Streckenweise spielt er Linien unisono mit dem Altsaxofonisten Wanja Slavin und dem Gitarristen Reinier Baas. Matthias Pichler am Kontrabass flankiert sie dabei nicht nur, sondern wird immer wieder mit in die erste Reihe geschoben.
Vor allem die Umkehr, dass das Schlagzeug die Komposition zusammenhält und nicht wie sonst üblich die Soloinstrumente, verdreht erst einmal sämtliche Hörgewohnheiten. Peter Gall und seine Freunde schaffen so neue Strukturen, die auf alten Fundamenten bauen. Das tanzbare „Luz Solar“ soll an Herbie Hancock erinnern, für das melancholische „Heartbeat“ mit Böhms sphärisch-schönem Klaviersolo oder „Yellow Heaven“ mit Slavins treibendem, energetischem Alto stehen andere Götter des Jazz Pate. Sie alle vereinen sich schließlich in „Heroes“, bei dem gerade Baas nicht zum ersten Mal unter Beweis stellt, wie man mit einem völlig gegen den Strich gebürsteten Saiten-Intermezzo tatsächlich so etwas wie Wohlklang erzeugen kann.
Das alles wirkt auf erfrischende Weise anders und lässt sich nicht mehr mit der üblichen Gebrauchsanweisung des Jazz konsumieren. Die Jungs heben ab, sind ganz bei sich, werfen all ihre Erfahrungen in die Waagschale, um einen Zustand aus Ekstase und Verzückung zu generieren. Am besten lässt sich das bei einem Stück wie „Closing The Chapter“ aus dem furiosen neuen Album „Love Avatar“ erspüren. Peter Gall hält über rund zehn Minuten einen Rhythmus mit einer dieser tropischen Rasseln, die auf der südlichen Halbkugel den Mittelpunkt aller möglichen Musikformen bilden. In diesem Moment ist das keine Weltmusik, sondern der kleinste musikalische Nenner, in dem Afrobeat, Modern Jazz und elektronische Tanzmusik zusammenfließen. Die Musiker sind dabei nicht mehr oder weniger als das Gefäß für den Strom der Musik. Wofür sie am Ende aber enthusiastischen, langanhaltenden und verdienten Beifall erhalten.