Oded Tzur Quartet | 28.02.2020

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Coltrane ist weiß, schmächtig, trägt braune Locken und eine Hornbrille. Ansonsten ist fast alles noch so wie 1967: der Anzug, die Krawatte, die fordernden Bewegungen, so als würde er mit seinem Tenorsaxofon ringen, es niederkämpfen wollen. Und vor allem der Sound seines Horns! Im Keller unter der Hofapotheke erklingt gerade als Zugabe „Afro Blue“, die Leute in den vollbesetzten Reihen sitzen entweder mit offenen Mündern da, wiegen ekstatisch ihren Kopf oder reiben sich verwundert Augen und Ohren. Kann das sein . . . ?

Die Reinkarnation des größten aller Saxofonisten, eines Türöffners von der Vergangenheit zur Zukunft, einen, den die Jazzwelt seit seinem Ableben vor 53 Jahren schmerzlich vermisst, trägt an diesem Abend den Namen Oded Tzur. Gerade mal 35 Lenze zählt der auf den ersten Blick unscheinbare junge Mann, der in den Niederlanden das Licht der Welt erblickte, in Israel aufwuchs und heute in New York lebt, wo nach wie vor das Herz seiner Musik schlägt. Er und seine Band spielen gerade den alten Coltrane-Klassiker, und es klingt, als stünde der Meister höchstpersönlich da oben. Aber Tzur ist weiß Gott kein billiger Plagiator, kein Trittbrettfahrer wie Hundertschaften von Kollegen vor ihm. „Sein“ Coltrane klingt viel ausgebuffter, kalkulierter, strategischer. Dass dabei ein mindestens ebenso dichtes Intensitätslevel wie beim Original entsteht, ist nur eines von vielen weiteren Talenten dieses mehr als verblüffenden Newcomers.

Jeder einzelne Ton gerät bei ihm zum Erlebnis, die Addition all dieser Töne entwickelt sich von einer Ansammlung leuchtender, farbiger Kerzen zur berstenden Naturgewalt, einem kontrollierten Freisetzen von Energie. Oded Tzur, den die indische Meisterflötistin Hariprasad Chaurasia in die Geheimnisse der Mikrotonalität einführte, beherrscht die Kunst der Dramaturgie intuitiv tatsächlich wie weiland John Coltrane. Zeitverlauf und Harmonik, ruhige Tempi und Mut zu üppigen, wuchtigen Melodien zeichnen jede seiner ausladenden Kompositionen aus, die Namen wie „20 Years“, „The Dream“ oder „Here Be Dragons“ tragen. Sie beginnen fast immer an der Grenze der absoluten Hörbarkeit und zwingen das Publikum dazu, mitunter gar den Atem anzuhalten. Dabei haucht Tzur minutenlang in sein Mundstück, ertastet sich förmlich die Melodie. Pianist Nitai Hershkovits – die zweite sensationelle Neuentdeckung dieses außergewöhnlichen Konzertes – drückt im Gleichklang die Tasten empfindsamer als jede Katze auf Samtpfoten. Der Bass des Griechen Petros Klampanis tickt dazu wie der ruhige Puls eines buddhistischen Mönches und Drummer Johnathan Blake schrappt so leise mit seinen Sticks über die Becken, als würde sie der Wind im Kellerverlies bewegen.

Ganz langsam schwillt das laue Lüftlein dann zum Sturm an, mächtig, bedrohlich, faszinierend. Ein reißender Strudel entsteht, der alles verschlingt. Wer die Augen schließt, wähnt sich von Coltranes legendären Kumpanen McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones umgeben. Sie (oder sind es tatsächlich ihre Erben?) kleiden den alten Modern Jazz der 1960er charmant und leidenschaftlich in ein zeitgemäßes Outfit, frönen lustvoll ihrer Spiellaune, agieren funky, swingend und orientalisch zugleich, gönnen sich authentische, niemals kitschige Emotionalität und fangen jede Eruption der Gefühle mit ihrem feinen Intellekt wieder ein.

Gerade deshalb gerät die zum Niederknien schöne Interpretation des alten Elvis-Schmachtfetzens „Canʼt Help Falling In Love“ in dauerhaft gedimmter Lautstärke zum Kino der akustischen Empfindungen. Zum ersten Mal darf man dabei erleben, wie Schweiß auf der Haut, Tränen im Gesicht und ein inniger Kuss klingen könnten. Ganz, ganz selten in den zurückliegenden Jahren reagierte das Publikum im Birdland enthusiastischer, frenetischer. Einer hatte sie alle von den Stühlen gerissen. Chapeau Oded Tzur!