Grundsätzlich sind der Freitag und der Samstag die Konzerttage im Birdland Jazzclub in Neuburg. Es sei denn, die Pianistin Lynne Arriale aus Jacksonville, Florida, kündigt sich an. Nachdem das Samstagskonzert im Nu ausverkauft ist, gastiert sie auch noch ausnahmsweise am Sonntag. Fast überflüssig zu erwähnen, das es auch für den Zusatztermin schnell keine Tickets mehr gibt.
Woran liegt das? Zum einen daran, dass ihre Konzerte in Neuburg schon immer Garanten für kraftvollen und gleichzeitig eleganten Piano-Jazz waren, was sich natürlich herumgesprochen hat, zum zweiten an einer ganzen Reihe exzellenter Platteneinspielungen, mit der sie auch in den Medien für Aufsehen sorgt, zum dritten daran, dass man für ihre Musik kein Jazz-Abitur benötigt und schließlich daran, dass jedes ihrer Stücke akribisch ausgearbeitet ist, genau die Balance findet zwischen Wiedererkennungswert und exzellenter solistischer Arbeit, wobei sie – was sie abhebt von den Kompositionen vieler ihrer Kollegen – zwar über keinen Text verfügen, sehr wohl aber über eine Botschaft.
Im Grunde ist sie nicht nur eine Pianistin – und Professorin für Jazzpiano an der University Of North Florida – sondern auch die Sonderform einer Singer/Songwriterin, bei der das Piano den Gesangspart übernimmt. Die Stücke ihres neuen Albums „Being Human“ tragen Titel wie „Passion“, das Greta Thunberg gewidmet ist, „Courage“ und „Heart“, die sich mit dem Thema Ukraine beschäftigen, oder „Persistance“ über die afghanische Frauenrechtlerin Faira Ghafari. Sobald man das weiß, stellt sich beim Zuhören fast zwangsläufig das Phänomen ein, dass man die jeweils zugrunde liegende Thematik auch ohne Umweg über die Sprache hört. „Soul“ ist soulig, „Joy“ ist voller Lebensfreude, „Curiosity“ macht allein wegen seines Ablaufs neugierig.
Immer wieder holt sie Stücke aus früheren Alben aus der Versenkung, etwa „The Lights Are Always On“, aus der gleichnamigen und zugleich politischsten CD, in dem die stillen Helden der Pandemie gewürdigt werden, ab und zu covert sie auch, etwa liebevoll „Let It Be“ von den Beatles oder zornig „Sometimes I Feel Like A Motherless Child“, das noch aus der Sklavenzeit stammt, aber nichts an Brisanz verloren hat. Nicht die einzigen, aber vielleicht die eindringlichsten Momente des Abends sind die, in denen Lynne Arriale es schafft, eine besonders intensive Verbindung herzustellen zwischen sich und ihrem Publikum, das für die technische Brillanz und die Passgenauigkeit der Soli Szenenapplaus spendet, aber auch gleichzeitig andächtig bei der Sache ist, weil es die Botschaft verstanden hat, ja, vielleicht nur wegen ihr gekommen ist.
Lynne Arriale bietet nicht nur tolle Musik an diesem – dem ersten – Abend im Birdland, sondern dem Personal, für das sie ihre Stücke geschrieben hat, auch ein Forum. Im Grunde hat sie durchaus etwas von einer Aktivistin an sich, einer, die sich zwar der in diesem Umfeld vergleichsweise eher unüblichen Ausdrucksform der Instrumentalmusik bedient, dies aber musikalisch absolut souverän und inhaltlich jederzeit glaubwürdig. Als sie sich anlässlich des Stücks „Sounds Of America“ schließlich auch noch für die „Zustände“ in ihrem Land entschuldigt, weiß man sofort, was und vor allem wen sie damit meint. Joe Biden ist es nicht.