Eine Bretterwand, fünf Eimer mit Farbe. Cezanne, Monet, Van Gogh, Picasso und Kandinsky stehen davor, greifen zum Pinsel und beginnen zu malen. Jeder für sich verfolgt seine ureigene künstlerische Vision. Dabei entstehen fünf Meisterwerke, die sich mit ein paar lockeren Strichen zum genialsten Bauzaun seit Erfindung des christlichen Handwerks verbinden. Alles fügt sich, alles paßt.
So wie bei jener seltenen Sternstunde am Wochenende im Neuburger „Birdland“ Jazzclub. Da trafen sich fünf Musiker von Weltruf an ihrer imaginären Bretterwand. Und die Menschen im abermals ausverkauften Keller unter der Hofapotheke lauschten atemlos oder reagierten enthusiastisch, als ob gerade in diesem Augenblick der Jazz erfunden würde. Denn Kenny Burrell, Benny Golson, Reggie Moore, Jimmy Woode und Alvin Queen offerieren mit filigranem Handwerk lang erwartete Labsal für alle Zeitgeist-Geschädigten. Die Gemeinschaft der Phantasie dokumentiert, daß es sie tatsächlich noch gibt, diese unprogrammierbare Kunst voller überschäumender Leidenschaft und echter Lebensfreude.
Man muß mit sich schon völlig im Reinen sein, um auf einem derart hohen ästhetischen Level so perfekt den Nerv des Publikums zu treffen, wie die „Allstars“, die Burrell, die 66jährige Gitarrenikone aus Detroit, und Golson, das 68jährige Saxophondenkmal aus Philadelphia, da für ihre Europatour zusammengetrommelt haben. Eine erlesene Runde voller kantiger Individuen, schon einzeln in der Lage, musikalische Berge zu versetzen, aber im Kollektiv eine schier unbezwingbare Macht.
Alvin Queen etwa, einst in Diensten von John Coltrane, marschiert am Schlagzeug auf Teufel-komm-raus, verschränkt gegenläufige Rhythmen und findet für jede Stimmung die passende Phonzahl, während sich Jimmy Woode, die langjährige Stütze des Duke Ellington-Orchesters, überraschend als derzeit härtester Swinger der Kontrabassisten-Gilde in Erinnerung bringt. Selbst Reggie Moore, früher Pianist von Count Basie, verwandelt die Tastatur mit gezielt erhöhten Akkorden und Staccati in ein flimmerndes Funky-Biotop.
Daß die drei räumlich die Initiatoren des Projektes „Bauzaun“ umrahmen, besitzt Symbolkraft. Queen, Woode und Moore zeichnen für den pastellfarbenen Untergrund des prächtigen Hardbop-Gemäldes verantwortlich, Kenny Burrell und Benny Golson für die schillernden Nuancen. Der oft als geschmackvollster Gitarrist der Moderne gelobte Amerikaner besticht in Neuburg mit seiner strukturellen Klarheit, die weder Bluesfeuer noch Beseeltheit ausschließt. Sein reiner, leuchtender, warmer Ton symbolisiert in Up-Temponummern wie „Staplemates“ oder „Blue Bash“ völlige Übereinstimmung zwischen technischer Brillanz und Ausdruck.
Mit Golson, dem Komponisten vieler bekannter Jazzstandards wie „Blues March“ oder „Along Came Betty“, herrscht in jeder Lage stilles Einvernehmen. Der Tenorsaxophonist führt seine luftige, romatisch-zarte, melodisch und harmonisch enorm variable Phrasierung immer wieder geschickt an Burrells Gitarre heran und umwickelt sie im erklärten Höhepunkt des Abends, dem Traum-Duett „If You Could See Me Now“, mit kaum hörbaren, anschmiegsamen, weichen Linien.
Selbst bei der jamsessionartigen, ausgelassenen Zugabe „Now`s The Time“ öffnet sich die Tür zu einer anderen Dimension der Ensemble-Kunst immer weiter. Ob diese nun neu ist oder seit Jahrzehnten einfach gänzlich unbeachtet blieb, spielt in diesem berauschenden Augenblick wirklich keine Rolle mehr.