John Scofield – Dave Holland Duo (Stadttheater Neuburg) | 13.11.2021

Augsburger Allgemeine | Reinhard Köchl
 

Es gibt keine Superhelden mehr, auch nicht im Jazz. Keine himmlischen Wesen, keine Coltranes, keine Ellingtons, keine Armstrongs. Die Ära der Gottgleichen, derjenigen, die Stile prägten und einem ganzen Genre den Nimbus der Unbesiegbarkeit und grenzenlosen Freiheit verliehen, ist vorüber. Auch die nachfolgende Generation, diejenigen, die zumindest in jungen Jahren im Dunstkreis der sagenumwobenen Figuren agieren durften, ist inzwischen in die Jahre gekommen. Aber immerhin: Sie spielen noch. Und verstehen es zumindest ansatzweise, einen Hauch jener Magie zu verbreiten, die den Jazz einst zur coolsten, zur aufregendsten Musik dieses Planeten werden ließ. So fühlt es sich an, wenn sich zwei Thronfolger wie John Scofield und Dave Holland zusammenschließen, wie beim Highlightkonzert des 11. Birdland Radio Festivals. Dann weht nicht nur ein Hauch, sondern ein ganzer Sturm von Jazzgeschichte durch das – unter 2G-Regeln – ausverkaufte Neuburger Stadttheater.

Captain America und Iron Man kämpfen gemeinsam gegen die ästhetischen Verwerfungen und geschmacklichen Verirrungen, sie verschmelzen ihre einzigartigen Kräfte, um ein Bollwerk gegen den Zeitgeist bilden zu können, neue Energiequellen zu erzeugen, die tiefer wirken. Zwei potenzielle Superhelden, Ausnahmekünstler per se, die eine gemeinsame Vergangenheit bei Miles Davis eint und um deren Nachhaltigkeitseffekt sich keiner mehr Sorgen machen muss. Der Amerikaner (Scofield) und der Engländer (Holland) bilden das, was man gemeinhin ein Traum-Duo nennt, kleine Starallürchen inklusive. So verweigerte das sagenumwobene Tandem während seiner 90-minütigen Performance beharrlich die übliche und vertraglich festgelegte Pause, legte aber stattdessen allergrößten Wert auf die Farbe der Handtücher (grau). Ein bisschen darf man ja auch den Superhelden in einer Weltmetropole des Jazz wie Neuburg rauslassen, vor allem wenn das Konzert zum Ende der großen Europatour genau zwischen Rom und London eingebettet ist.

Die überwiegend akustisch angelegte Musik bietet dagegen einen fast herzerfrischenden Kontrast. Entspannt, lässig, hochvirtuos, emotional und mitunter gar verletzlich verknoten sich die insgesamt zehn Stahlsaiten (vier am speziell für Dave Holland angefertigten Kontrabass, sechs an der Ibanez-Scofield-Signature-Gitarre) ineinander. Es sind einfachste Mittel, ein bisschen swingende Bebop-Melodik wie im Opener „Memorette“, mit dem das prominente Gespann operiert, keine Neuerfindung des Rades, kein Spektakel. Wer die Ruhe besitzt, zuhören zu können, der stellt rasch fest, dass sie dazu neigen, eher Noten wegzulassen, bewusst Pausen zuzulassen und den Rhythmus des Atems aktiv in ihren Vortrag einzubauen. „Icons On The Fair“ passt nahezu perfekt zur draußen um sich greifenden November- und Corona-Tristesse, gerade weil Dave Holland seine Basslinien ineinanderschiebt und dadurch eine melancholische Stimmung von besonderer Güte erzeugt, die innwendig wie von außen wärmt.

Natürlich sind viele, vor allem jüngere Fans wegen „Sco“ ins Stadttheater gekommen, um diesem funkig züngelnden, fein zwischen Blues und Balladen ziselierenden Griff-Zauberer mit dem kecken Druidenbart, der jeden Ton sorgsam wägt und ihn auf keinen Fall schlampig spielen will, der nichts unter den Tisch fallen lässt und auch an diesem Abend gefühlt die größeren Anteile besitzt, auf die Finger zu schauen. Die eigentlichen Impulse aber kommen von Dave Holland. Der 75-Jährige ist wendig, flexibel, ideenreich, konzentriert, sprungbereit und in seiner Linienführung auf unprätentiöse Art zeitlos modern. Er schlägt für seinen heldenhaften Mitstreiter jede Schneise durch das Dickicht, um ihm danach sogar noch einen roten Teppich auszurollen. Einer wie Holland hat längst die Grenze zwischen walkender Begleitung und Solo hinter sich gelassen. Sein Spiel besitzt spätestens jetzt das, was einen echten Superhelden ausmachen könnte: ein Alleinstellungsmerkmal.

Je länger der Abend dauert, um so selbstverständlicher agieren Holland und Scofield, gehen ineinander auf. Das gleißende „Memories Of Home“ entpuppt sich als Paradebeispiel musikalischer Achtsamkeit, die pulsierende Holland-Nummer „Not For Nothing“ als Fundgrube für überraschende Wendungen, während Scofields „Meant To Be“ wie eine extreme Bergtour wirkt, bei der die Schwerkraft aufgehoben zu sein scheint. Spätestens beim „See Mine Are Blues“ und der Zugabe „Mr. B.“ (mit der Dave Holland einem „echten“ Superhelden, nämlich seinem erklärten Vorbild Ray Brown, huldigt) wird klar, dass sich die Fantastischen Zwei ausschließlich auf alte Hausmittel des Jazz beschränken: zuhören, ineinander aufgehen und jedes Stück angehen, als würde die Tinte noch vom Notenblatt tropfen. Die hohe Kunst der musikalischen Solidarität. Was bei der aktuellen Impfdebatte nicht klappt, exerzieren diese beiden Ausnahemusiker vor: Gemeinsam lassen sich tatsächlich Berge versetzen. Auch ohne Superkräfte.