Johannes Enders Quartet „Standard Questions“ | 21.02.2025

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Eines vorweg: Dieser Text braucht viele Fragezeichen. Denn Johannes Enders, der wahrscheinlich größte (durchaus im doppelten Wortsinn) Tenorsaxofonist Deutschlands würde längst kein „stinknormales“ Programm mehr anbieten. Weil er seit einiger Zeit meist einen besonderen Dreh braucht, der ihn vom großen Rest unterscheidet, fiel ihm auf, dass erstaunlich viele Gassenhauer des Great American Songbooks als Fragen formuliert wurden. „Und darüber sind wir irgendwann gestolpert“, lächelt der 57-jährige Hüne mit dem Hang zum pfiffigen Wortwitz bei seiner Wiederkehr ins ausverkaufte Neuburger Birdland. Wenn das kein Grund für einen Abend ist, an dem die altbekannten Standards in einem völlig anderen Gewand kredenzt werden!

Wonach also fragen Standards? Nach dem tieferen Sinn des Lebens? Nach dem Auslöser für Kriege? Nach der Wirkmacht der Liebe? Oder nach dem eigentlichen Wert eines einzelnen Menschen? Bei Johannes Enders klangen sie noch nie wie verstaubte Artefakte aus dem Keller des Jazzmuseums. Immer wenn er die bekannten Themen durch sein Horn laufen ließ, dann polierte er sie auf, manchmal kolorierte er sie nach, zerstörte jedoch nie deren Substanz. Denn der Saxofonist aus Weilheim weiß ganz genau, dass Standards so etwas wie die DNA des Jazz sind, elementare Bausteine, die man nicht ohne Not manipulieren oder verfremden darf. Eher verschönern, wie Enders es an diesem ganz besonderen Freitagabend tut.

Denn just auf den Tag genau vor 40 Jahren ist Manfred Rehm in der benachbarten Blauen Traube erstmals zum Vorsitzenden des damals nur als Karteileiche dahindümpelten Birdland-Jazzclubs gewählt worden – ein Amt, dass er bis heute ausübt. Der Rest ist Stadt-, Kultur- und Jazzgeschichte. Auch Johannes Enders spielt darin seit über 30 Jahren eine wesentliche Rolle. Seine Auftritte im Hofapothekenkeller ebneten ihm früh den Weg zum gefeierten Weltstar des Jazz. In jungen Jahren galt er noch als begnadeter Zündler am Rande des Vulkans, der gerne brennende Streichhölzer in die brodelnde Lava wirft. Doch im Laufe der Zeit und einiger bewältigter Lebenskrisen hat er sich einen wunderbaren, sandig warmen Balladenton angeeignet, der besonders bei „How Long Has This Been Going On?“ zum Vorschein kommt.

Was wäre wohl ohne all die Hochs und Tiefs aus mir geworden? Oder: „What Am I Here For?“, bei dem der immer wieder verblüffende österreichische Pianist Oliver Kent das Spiel seines Freundes mit bluesigen Blockakkorden und perlenden Läufen pikant unterfüttert. Drummer Gene Calderazzo entspricht dem Idealbild des agilen, vielseitigen Schlagwerkers von tupfend bis donnernd, während der Bass seines amerikanischen Landsmannes Josh Ginsburg wie ein warmes Messer durch die Butter gehen kann. Enders und die Fragen: Was hat sich nun im Laufe all der Jahre verändert – „Whatʼs New?“ Eine ganz Menge und auch wieder nicht. Das Spiel des zwei Meter großen Mannes mit dem trockenen Humor ist noch einen Tick feiner, nuancierter, variantenreicher geworden, was in Tempowechseln und -verschleppungen wie in „Where Are You“ oder dem komplexen Swingbop in „What Is This Thing Called Love“ erstaunlich leicht und lässig klingt. Mitunter bläst er sogar zwei Saxofone gleichzeitig, wie weiland der große Rashaan Roland Kirk.

Dann erforscht Johannes Enders noch sein romantisches Potenzial (Isnʼt It Romantic?“), sucht nach dem Vollmond („How High The Moon?“) oder dem Grund des Meeres („How Deep Is The Ocean?“), bis er schließlich dem strukturellen Chaos in Ornette Colemans „When Will The Blues Leave?“ mit einem der besten, schnellsten Tenor-Soli, die je in den heiligen Birdland-Hallen erklangen, flottes, pfiffiges Ende bereitet. Tosender Applaus, tiefe Verbeugung. Und die immer wieder gehörte Frage am Ende der intensiven 120 Minuten: Wann mag es wohl ein Wiedersehen mit diesem unglaublichen Tenorsaxofonisten geben?