Selbst beim hundersten Mal ist es noch klingende Magie: „…bis morgens früh um Acht will ich glücklich sein. Manche lieben den hellen Sonnenschein, aber ich – ich lieb` die Nacht.“
Die Beleuchtung im Neuburger „Birdland“-Jazzclub wirkt in diesem Augenblick noch ein wenig oranger, noch ein wenig schummriger als zuvor, keine Gläser klirren mehr, die Menschen an den Tischen atmen nur noch flach, niemand spricht. Jenny Evans lächelt sie an, umklammert stellvertretend für alle ihr Mikrofon und verpasst selbst dem hartgesottensten Mannsbild weiche Knie, wenn sie Peter Kreuders „Eine Nacht voller Glückseligkeit“ mit ihrem samtenen Timbre auf kaum hör-, allemal fühlbares Zeitlupentempo herunterbremst.
Die zweite, heftig erklatschte Zugabe des Eröffnungskonzertes der neuen „Birdland“-Saison war einmal mehr der uneingeschränkte Höhepunkt einer kleinen, feinen, intensiv-emotionalen Gala der erstaunlich jung gebliebenen Engländerin, die seit 25 Jahren in München lebt. Mit lasziv-selbstbewusstem Sexappeal, der sich wohltuend von all den Kindfrauen mit Piepsstimme abhebt, koloriert die frühere Schauspielschülerin jeden Standard neu und überschreitet dabei mehr als einmal die Stilgrenzen des klassischen Jazzgesangs.
Wie sonst könnte etwa eine indisch angehauchte George Harrison-Nummer problemlos die Kontrolle der Jazzpolizei passieren? Pianist Walter Lang zupft an den Saiten des Flügels in einem seltsam klirrenden Unisono mit Bassist Chris Lachotta, das wie eine von Räucherstäbchen vernebelte Sitar klingt, während Rudi Martini das Drumset mit den Händen wie eine Tabla bearbeitet. Den Vogel schießt freilich ein Stück aus Carl Orffs Carmina Burana ab, das Jenny Evans im lateinischen (!) Originaltext interpretiert, während der gestrichene hölzerne Korpus Lachottas wie ein elektronischer Dub-Kessel brodelt.
Aber irgendwie ist niemand im Auditorium über derartige Eskapaden irritiert, weil es die Band schafft, sogar die spannende Musik des Frühbarock mit Liedern von John Dowland und Henry Purcell plausibel in die Sprache des anregend-anspruchsvollen Neuzeit-Jazz zu übersetzen. Und die Evans baut mitnichten auf den Wiedererkennungseffekt oller Gassenhauer. Viel lieber entstaubt sie unbekannte Preziosen von George Shearing, Noël Coward, Michel Legrand und Django Reinhardt, die vor ihr kaum jemand in den Mund nehmen wollte, und sorgt so für eine angenehme Überraschung nach der anderen.
Bis auf das prickelnde „Love for Sale“ und eine etwas holprige daherkommende Funk-Nummer (der einzige kleine Ausrutscher) fokussiert die Vokalistin über zwei Stunden lang, was sie am besten kann: Balladen. Weise, warm und stets mit einer winzigen Nuance Melancholie, singt – nein, lebt sie Titel wie „No Love without Tears“ oder „Remember me“. Neben ihrem fantastisch-sensitiven Langzeitbegleiter, dem Tasten-Impressionisten Walter Lang, hat Jenny Evans jetzt mit Mulo Francel endlich auch einen Partner gefunden, der seine Saxofonlinien nicht bloß rüde mit einem Schifferknoten um ihre dunklen Stimmbänder knüpft, sondern sie mit leisen Hauch lediglich flatternd umgarnt.
Wie gut, dass es zwischendurch immer wieder Atempausen gibt und der emotionale Schwitzkasten so nicht zu eng gerät. Ein ganzes Konzert nur mit gedimmtem Licht und Jenny Evans gedämpftem Timbre käme nämlich einem Generalangriff auf einsame Seelen gleich. Die Realität ist freilich mehr, als man zu verlangen wagt: Ein Abend voller Glückseligkeit.