Kann man Swing lernen? Kann man nicht! Man muss ihn einfach haben, genetisch bedingt sozusagen. Sein Geheimnis? Es ist dieser berühmte Punkt, auf den alles passen muss, die winzige Verzögerung, mit der der Beat über die Drei kommt, dieser spezielle Kick, wenn es der vereinten Musikergilde gelingt, jenen unvermeidlichen Fußwipp-Reflex oder das charakteristische Schnippen mit dem Finger auszulösen. Alles muss passen. Wie bei dem US-Tenorsaxofonisten Harry Allen und seiner grandiosen Rhythmuscrew, die im Neuburger Birdland-Jazzclub ein Lehrbeispiel für originären, authentischen, aber auch modernen Swing abliefern und das Publikum quasi zum Dauer-Grooven verführen.
Vergleiche hinken natürlich immer. Trotzdem drängen sie sich nach einem Abend wie diesem auf. Zwischen dem Eröffnungskonzert der neuen Jazzsaison in Neuburg vor gut zwei Wochen und dem aktuellen Gastspiel, zwischen Scott Hamilton und Harry Allen. Beides sind ähnlich strukturierte musikalische Programme, die Protagonisten gelten jeder für sich als Galionsfiguren des federnden Swing amerikanischer Prägung. Aber während bei Hamilton alles ruhig, beschaulich, unaufgeregt und in mitunter etwas routinierten Bahnen ablief, „kickt“ es bei seinem 56-jährigen Tenorsaxofon-Kollegen von der ersten Sekunde an. Allen bounct auf einer Akkordfolge beinahe lasziv zu nächsten, hüpft, federt, pfeffert seine Performance mit ein paar geschickt eingeflochtenen Überblastricks und modelliert seine Soli wie wohlig wärmende Neonlichter, in dem zwar die gesamte Historie seines Instrumentes von Coleman Hawkins über Lester Young bis zu Stan Getz durchschimmert, aber nie zum bloßen Plagiat verkommt. Stattdessen serviert er einen wohldosierten Adrenalin-Cocktail und einen Ton gewordenen Beweis dafür, dass Swing tatsächlich nicht zwingend altmodisch sein muss, um Fans aus Nah und Fern in einen renommierten Club wie das Birdland zu locken. Der Mann aus Washington D. C., der mit seinem deutschen Dauerpartner, dem scheinbar immer noch steigerungsfähigen, grandios perlenden Kölner Pianisten Martin Sasse, dem (für deutsche Verhältnisse) frappierend beweglichen Kontrabassisten Martin Schieferdecker sowie dem fein tickenden Schlagzeuger Joost van Schaik nach 2021 wieder in den gut gefüllten Hofapothekenkeller gekommen war, könnte so einer sein, der es schafft, aus den Ruinen auf charmante Weise etwas Neues, Zukunftsträchtiges zu bauen.
Die vier funktionieren zusammen wie ein gut geöltes Uhrwerk, servieren mit Verve Standards wie das ansteckend-lebhafte „I Love Being Here With You“ von Peggy Lee oder Martin Sasses „Tea For You“ und glänzen selbst bei einer sonnig-sinnlicher Ballade voller Erinnerungen mit ihrer ganzen uneitlen Virtuosität, die ausschließlich der Musik und nicht der Pflege des eigenen Egos dient. Das mag auch der Hauptgrund sein, warum dieser Abend so gut gelingt: Harry Allen, Martin Sasse, Martin Schieferdecker und Joost van Schaik nehmen selbst nicht so ernst und tun alles dafür, um die von ihnen ausgewählten Stücke ohne Reibungsverluste an das dankbare Publikum weiterzugeben. Bestes Beispiel: Die flotte, ansteckende Hardbop-Nummer „Step Right Up“ von Oliver Nelson zum Finale Furioso, ein Paradestück im fulminanten Schweinsgalopp, bei dem man eine ungefähre Ahnung davon bekommt, warum diese Musik in den 1950er- und 1960er-Jahren so aktuell und hip gewesen sein muss. Weil sie immer exakt den richtigen Punkt trifft. Ja, genau: Es swingt!