Harald Rüschenbaum & Priwjet | 07.01.1995

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Daß schon seit einiger Zeit dem Münchner Schlagzeug-Tausendsassa Harald Rüschenbaum die Aufgabe zufällt, den ersten Schritt in ein neues Jazzjahr in Neuburg zu vollführen, hat sich für die Verantwortlichen des Birdland-Jazzclubs mittlerweile als regelrechter Glücksgriff entpuppt. Ein Charmeuer, ein Entertainer, ein Mensch mit Stil, Geschmack, ehrlicher Freude und ein ungewöhnlicher Musiker mit fast charismatischen Fähigkeiten obendrein – so nimmt Rüschenbaum zum Saisonauftakt in schöner Regelmäßigkeit den Keller unter der Hofapotheke im Sturm. Zum dritten Mal in Folge bescherte er nun am Samstag seiner immensen Fanschar ein opulentes Mahl an Rhythmen und Klängen, wobei im Vergleich zu 1994 und 1993 jedoch diesmal ein ganz wesentlicher Unterschied festzustellen war.

Im Schlepptau des jugendhaften Trommlers stellten sich nämlich zum ersten Mal in Neuburg drei gänzlich unbekannte russische Musiker vor, welche die besonderen Fähigkeiten besitzen, das Image des Jazzszene ihres Heimatlandes möglicherweise von Grund auf umzukrempeln. Während das Gros ihrer Kollegen aus der Unterdrückung in der früheren Sowjetunion heraus den wilden, ungezügelten Freejazz zu einer Lebensphilosophie erhoben, huldigen Petr Kornev, Nicolay Popravko und Vladimir Kudryavtsev, quasi gegen den Strom schwimmend, dem fröhlichen Swing und Bebop. Als brave Musikstudenten an der Universität von St. Petersburg hingen sie nachts wie fast alle Ostblock-Jazzer heimlich vor den Radios, um die legendäre Sendung „Voice of America“ zu hören, ja förmlich aufzusaugen. Vor allem dem Tenorsaxophonisten Nicolay Popravko hatte es dabei ein Mann angetan, der sich ebenfalls vom Osten aus die Geheimnisse des Jazz erschloß und später imWesten eine Weltkarriere begann: der heute in München lebende Startrompeter Dusko Gojkovic.

Daß die jungen Russen jemals mit ihrem großen Idol auf einer Bühne stehen würden, hätten sie sich vor einem Jahr nicht einmal in ihren kühnsten Träumen ausgemalt. Doch das Ende des Kalten Krieges und Harald Rüschenbaum machten es möglich. Bei einem Privatbesuch in St. Petersburg lernte Rüschenbaum die Jazztroika mit dem Namen „Priwjet“ kennen, brachte sie nach München, führte sie mit Gojkovic zusammen und produzierte sogar eine CD. Das Konzert im Neuburger Birdland war insgesamt das zweite Gastspiel einer großen Premieren-Tournee, die das multinationale Quintett derzeit bestreitet.

Auch wenn gewisse Abstimmungsprobleme und Hemmungen angesichts der (allzu verständlichen) großen Nervosität von „Priwjet“ nicht zu verbergen waren, so offenbarten die drei doch ein überraschend starkes Potential an „echtem“, Jazzfeeling, das zu jeder Sekunde parallell mit dem traditionellen Puls des Bebop schlägt. Popravko zum Beispiel, dessen Tenorsaxophon hörbar in Richtung Cooljazz ausgerichtet war, der jedoch mit pfeilschnellen Licks einen anregenden Kontrapunkt zum brodelnden Bebop-Maßstab des Ensembles setzte. Oder der variantenreiche Bassist Kudryavtsev, der mit seinen dezenten Linien die rhythmischen Koordinaten vorgab und damit seinen überschäumenden Mentor Rüschenbaum an den Drums immer wieder „einzufangen“ wußte. Den stärksten Eindruck von „Priwjet“ hinterließ jedoch der Pianist Petr Kornev. Seine vielbeklatschten, strukturell klug aufgebauten Solodarbietungen ließen eine deutliche Vorliebe für die souligen Blockakkorde eines Horace Silver durchschimmern, obwohl sein Spektrum auch durchaus moderne Ansätze erkennen läßt. Daß Kornev sogar als Komponist von spritzig-tanzbaren Latin-Nummern über bemerkenswerte Fähigkeiten verfügt, wurde in „Batida Differente“ eindrucksvoll deutlich.

Der Rest des Abends wurde freilich zu einem lupenreinen Event für Dusko Gojkovic. Der 63jährige Montenegriner lieferte nahezu alle Arrangements, sei es das eigens für die russischen Freunde auf der Basis von „Softly as in a morning Sunrise“ komponierte „Sunrise in St. Petersburg“, das liebliche „Medium Rare“, das schneidige „New York City“ oder die brandneuen Nummern „Kentucky Graw“ und „Brooklyn Blues“. Während der Wahlmünchner in den Up-Tempo-Nummern im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen zum Flügelhorn griff, wurden seine gedämpften Balladen auf der Trompete einmal mehr zu atemberaubenden Demonstrationen seines sensationellen Tones. So wie Gojkovic zum Beispiel beim gänsehauterzeugenden „Emily“, unterstützt durch feine Besenviertel von Harald Rüschenbaum, für Stecknadelstille im Keller sorgte, hätte dies nur mehr Miles Davis zu Lebzeiten geschafft.

Wenn der Jazz 1995 das hält, was sein Auftakt versprochen hat, dann dürfen sich die Fans dieser Musik in Neuburg auf turbulente zwölf Monate freuen.