Das aktuelle Album der in der südkoreanischen Metropole Seoul geborenen und seit langem in Stuttgart lebenden Pianistin Gee Hye Lee trägt den Titel „What Matters Most“. Worauf es am meisten ankommt? „Auf das Leben im Heute“, sagt die Musikerin, die ab ihrem dritten Lebensjahr eine klassische Ausbildung am Klavier erhielt und sich seit 1993 mit Jazz beschäftigt. „Weil keiner weiß, ob es morgen noch möglich ist.“
Worauf es ihr speziell an diesem Abend im Birdland am meisten ankommt, sind natürlich die Stücke besagter CD, die es gilt, in die Livesituation zu übersetzen, vor Publikum zu interpretieren. Zudem auf blendende Technik, einen makellosen Anschlag, auf musikalischen Geschmack, Ästhetik, Empathie und Einfühlungsvermögen, auf das richtige Gespür für die angemessene Umsetzung von persönlichen Empfindungen und Erfahrungen in Musik wie bei „Care (A Voice For The Voiceless“), worin es um Tierschutz geht, über einen Rückzugsort in „A Cottage On An Isle“ oder der Verbeugung vor einem ihrer ganz persönlichen Helden, dem Filmkomponisten Ennio Morricone in „Ennio“.
Sie genieße die künstlerischen Freiheiten, die der Jazz ihr biete, sagt sie, aber sie liebt auch das melodische Spiel, das Solieren innerhalb eines abgesteckten Rahmens. Querschüsse und abenteuerlichen Gegenentwürfe um ihrer Selbst willen sind nicht ihr Ding. „What Matters Most“ umfasst nämlich auch den Aspekt des Wohlfühlens. Hier, jetzt in diesem Augenblick, an diesem Abend im Birdland. Das schließt hohen künstlerischen Anspruch selbstredend mit ein, denn auf oberflächlicher Ebene läuft während dieser zwei Stunden im Kellergewölbe unter der ehemaligen Hofapotheke keine einzige Sekunde ab.
Das liegt auch an Joel Locher am Kon-trabass und Mereike Wiening am Schlag-zeug. Beide sind gute Bekannte im Birdland. Im aktuellen Fall tragen sie Gee Hye Lee förmlich zum Erfolg. Locher liefert den samtenen Unterbau und findet in dieser Formation endlich die Gelegenheit zu zeigen, welch großer Solist er auch ist. Mareike Wiening ist einmal mehr ein Musterbeispiel dafür, mit welcher Eleganz, welcher Leichtigkeit und wie mühelos und doch ungemein differenziert man Stücke jedweder Beschaffenheit mit federnden Beats unterlegen kann. Sicherlich ist sie eine der wichtigsten Vertreterinnen des „Instruments des Jahres“ im Bereich des Jazz hierzulande.
Auch der Humor kommt bei Gee Hye Lee nicht zu kurz. Gerade in schwierigen Zeiten wie diesen nicht. In Anlehnung an einen der großen Klassiker des Jazz heißt eines ihrer Stücke nämlich „My Funny Quarantine“. Und mit der Auswahl von Kenny Wheeler’s „Everybody’s Song But My Own“ und Stevie Wonder’s Uptempo-Ballade „My Cherie Amour“ setzt sie auch noch ein dickes Ausrufezeichen hinter die Kategorie „Wie covere ich auf besonders eindrucksvolle Weise Stücke anderer Musiker?“ – Worauf es am meisten ankommt? Ja, diese Band weiß es an diesem Abend ganz genau. Dass sie mit diesem Konzert etliche neue Fans für sich hinzugewonnen hat, ist am Ende offensichtlich.