Europäischer Jazz – bis vor einigen Jahren klang das noch so surreal wie japanischer Jodler. Oder im direkten Umkehrschluss: amerikanische Klassik. Viele Musiker in den USA hatte nur ein müdes Lächeln oder Blicke der Verachtung für jeden Kollegen aus der Alten Welt übrig, der sich an „ihrer“ ureigenen Kunstform vergriff. Dass jede der vorhin genannten Kombinationen in der globalisierten Gegenwart längst zur Normalität geworden ist, daran ändern auch individuelle Geschmacksfragen nichts. Der Fall der European Allstars, die dem bis auf den letzten Platz gefüllten Neuburger Birdland-Jazzclub am Wochenende ihre Aufwartung machten, ist jedenfalls der schlagende Beweis dafür, dass es nicht mehr um Herkünfte geht, sondern einzig um individuelle Fertigkeiten und Virtuosität.
Beides ist bei den beiden Birdland-Stammgästen Martin Sasse aus Köln (Piano) und Bernd Reiter aus Wien (Schlagzeug), dem Stuttgarter Bassisten Mini Schulz sowie dem ungarischen Tenorsaxofonisten Gábor Bolla und dem französischen Trompeter Stéphane Belmondo sowieso im Überfluss vorhanden. Die fünf bilden ein EU-Quintett im allerbesten Wortsinn, das gar prächtig miteinander harmoniert, sich frei von jedweden Egoismen bewegt und das Amerikaner bei geschlossenen Augen leicht mit eingespielten „Cats“ aus Uptown Manhattan oder Detroit verwechseln könnten. Vor allem Bolla, der sich im Gegensatz zu seinem Regierungschef als mannschaftsdienlicher Europäer versteht, eine Reinkarnation seines großen Vorbildes John Coltrane, zertrümmert die Themen wie mit einem Meißel, um sie dann zum Schluss auf liebevoll akkurate Weise wieder zusammenzubauen. Manchmal hört man in den freien Improvisationen noch eine Spur Bartok oder Liszt, aber seine Haupteinflüsse zieht der 35-jährige Hotblower klar von seinen persönlichen Säulenheiligen Stan Getz, Ben Webster, Coltrane und auch Sonny Rollins.
Einen wohltuenden Kontrast in der Bläser-Frontline bildet dabei Stéphane Belmondo – obwohl in Paris lebend, nicht verwandt oder verschwägert mit dem gleichnamigen Schauspieler. Mithilfe seines runden, warmen, gleißenden Tones versteht es der Trompeter, Melodienlinien wie ein Töpfer zu modellieren. Sowohl Belmondo wie auch Bolla lassen dabei ganz bewusst eine Ingredienz in ihr Spiel einfließen, die bei aller technischen Brillanz immer mehr in Vergessenheit gerät: Testosteron. Alles was sie auf der Bühne tun, ist bewusst zupackend, kraftvoll und – ja, männlich robust, selbst dann, wenn das Flügelhorn des Franzosen im Standard „Everything Happens To Me“ wie die Flügelschläge eines Nachfalters klingen. Und sie dürfen das auch, denn sie wissen mit dem einmal mehr grandios verbindenden Pianisten Martin Sasse und den für eine unwiderstehliche Swing-Note zuständigen Bernd Reiter und Mini Schulz ein Rhythmustrio hinter sich, nach dem sich viele auch in New York die Finger lecken würden.
Noch ein Wort zum Programm: Das große Verdienst der European Allstars liegt in Neuburg vor allem darin, bis auf ganz wenige Ausnahmen ein Repertoire zu kredenzen, das zwar im weitesten Sinn zum „Great American Songbook“ zählt, um das aber vor allem US-Künstlerinnen und -Künstler leider einen großen Bogen machen? Weil es zu schwierig ist? An diesem Abend erklingen Preziosen wie „Marthaʼs Prize“ und „Holy Land“ aus der Feder von Cedar Walton, „Sail Away“ von Tom Harrell, „Birdlike“ von Freddie Hubbard, „415 Central Park West“ von Steve Grossman oder der Blues „Heartaches“ von Dexter Gordon. Herrlich in diesen grandiosen Themen ein akustisches Bad nehmen zu können, ein Genuss, den spontanen Intermezzi zu lauschen, etwa, wenn Gábor Bolla nur mit Reiter und Schulz im Schlepptau beinahe lustvoll die Themen in flüssige Schokolade verwandelt.
Und was noch auffällt: Zum wiederholten Mal applaudieren die Musiker an diesem Abend dem begeisterten Publikum im „besten Jazzclub Europas“ (Bernd Reiter) lange und aufrichtig zurück. Ein seltener, aber verdienter Dank für die einzigartige Atmosphäre und Wertschätzung im Birdland!