Die Zuschauer feiern ihn bereits lautstarkt, als er den Saal betritt. Emmet Cohen, aus Miami, Florida stammend und mittlerweile im New Yorker Stadtteil Harlem zuhause, eilt der Ruf voraus, einer der virtuosesten Jazzpianisten der jüngeren Generation zu sein. Das hat sich herumgesprochen, weswegen die Tickets für sein Konzert im Birdland auch im Nu vergriffen sind.
Eigentlich war er bis vor kurzem noch damit beschäftigt, die vor ungefähr 100 Jahren entwickelte Spielform des Stride Pianos in den aktuellen Modern Jazz zu übersetzen, was in Fachkreisen ziemlich für Aufsehen sorgte, aber davon ist in Neuburg nur noch wenig zu hören. Sein „Lion Song“, dem einstigen Gründervater Willie „The Lion“ Smith gewidmet, und ein Ausflug in die Zeiten des Ragtime sind die einzigen noch davon verbliebenen Spuren. Nein, Cohen ist längst schon wieder einen Schritt weiter, macht sich über Standards her auf eine unerhörte und bislang ungehörte Art und Weise und bringt mit damit den Saal zum Kochen, das Publikum zum Schwärmen und seine Fans dazu, in der Pause dafür zu sorgen, dass LPs und CDs weggehen wie die warmen Semmeln.
Wie macht er das? – Indem er das Great American Songbook und das Real Book Of Jazz zu seinen Bibeln macht und wie ein Prediger seinen Schäfchen deren Inhalt auf mitreißende, in jeder Phase ungemein lustvolle, vor Energie nur so sprühende Art präsentiert. Das funktioniert prächtig. Am Ende, nach weit über zwei Stunden, gibt es als zweite Zugabe eine zum Niederknien schöne Version von Neal Hefti’s „Lil‘ Darlin’“, völlig zurecht Standing Ovations für ein sensationelles Konzert und den sehnlichsten wenngleich unrealistischen Wunsch, es möge bis in die Morgenstunden einfach immer so weiter gehen.
Cohen ist als Instrumentalist virtuos, seine Kollegen, Philip Norris am Kontrabass und Kyle Poole am Schlagzeug, sind dies freilich auch. Wenn Cohen an „Holy Land“, „Second Time Around“ und „Don’t Get Around Anymore“ und damit an Cedar Walton, Count Basie und Duke Ellington herumzerrt, sie mit fast kindlicher Lust und Neugier zerlegt, neu aufbaut, mit Stolperfallen versieht, Unwuchten einbaut, dann ziehen die beiden mit schier unglaublichem Reaktionsvermögen mit. Wer genau hinschaut, der merkt schnell, dass Cohen ihnen seine Ideen meistens spontan vor die Nase setzt, ihnen die Bälle zuwirft. Die drei verstehen sich blind, natürlich, und Norris und Poole kennen zumindest Cohen’s bevorzugte Wurftechniken, aber das Publikum kennt sie nicht und ist einfach nur fasziniert.
Musik bedeute für ihn Freiheit, Leidenschaft, Zuhören, Gemeinschaft, Offenheit und Liebe, sagt Cohen. All das kommt an diesem Abend zum Tragen, ist Voraussetzung für die Grundidee, eine Verbindung herzustellen zwischen den frühen Klängen des Jazz und aktuellen Ausdrucksformen, die weitaus mehr, ungleich schillernder und wagemutiger ist als das Nachspielen bekannter Melodien zu bekannten Arrangements im Sinne doch recht eng verstandener Authentizität. – Unter dem Titel „Live From Emmet’s Place“ wurden während der Pandemie wöchentlich Livekonzerte aus seiner Wohnung ins Netz gestellt, die laut „The Guardian“ seither die „meistgesehene regelmäßige Online-Jazz-Show der Welt“ ist. Und nun spielt deren Initiator im Birdland. Absolut großartig!