Emile Parisien Quartet | 06.03.2020

Donaukurier | Karl Leitner
 

Was ist das denn? Melodien und Rhythmen rasen durch das Birdland, baumeln und taumeln, wanken und schwanken, mal scheint die Musik auf der Stelle zu treten und die Zeit still zu stehen, dann wieder rütteln heftige akustische Böen an den Grundfesten des Gewölbes. Minimalistische Figuren und orgiastische Ausbrüche folgen unmittelbar aufeinander. Manchmal scheint es, ein Orkan tobe und fege über Neuburg hinweg und die vier Musiker, die hier auf der Bühne stehen, wollten alles in Grund und Boden spielen.

Dabei ist alles perfekt geplant, nichts dem Zufall überlassen. Bei all der Dynamik, der gewaltigen Kraft, die hinter all dem steckt, dem sicht-, hör- und spürbaren Feuer in dieser Musik, ist doch alles durchdacht und dient einem übergeordneten Konzept, in dem freie Passagen ihren fest definierten Platz haben und sich scheinbar mühelos einfügen in die Regelhaftigkeit, die dem Ganzen durchaus zugrunde liegt. Dennoch ist diese Musik ständig in Bewegung. Kaum denkt man, man habe die Struktur einer Komposition begriffen, reißt einem die Band auch schon wieder den Boden unter den Füßen weg.

Verantwortlich für diese in jederlei Hinsicht außergewöhnliche und in wahrstem Sinn spektakuläre Musik sind Sopransaxofonist und Bandleader Emile Parisien, Pianist Julien Touéry, Kontrabassist Ivan Gélugne und Julien Loutelier am Schlagzeug, die derzeitige Speerspitze des französischen Jazz, und deren aktuelles Album mit dem Titel „Double Screening“. Dafür hat Die Formation den Jahrespreis 2019 der Deutschen Schallplattenkritik erhalten, und das wahrlich nicht umsonst. Parisien und seine Band, die bereits seit 15 Jahren in dieser Besetzung existiert, was auch das traumwandlerische Zusammenspiel erklärt, drückt mit Stücken wie „Double Screening“, „Spam I-III“, „Hashtag I-IV“, „Algo“ und „Mal-ware Invasion“ die grassierende Zerrissenheit und zunehmende Überforderung durch das digitale Zeitalter mit den Mitteln der Musik aus. „Diese Musik fährt in die Beine, ohne das Hirn zu vernachlässigen“, heißt es in der Laudatio zum erwähnten Kritikerpreis. Und, was auch beim Konzert im Birdland überdeutlich wird: Sie hat Witz und verfügt über Humor. Wie Oldtime Swing und enthemmter Bebop in Portionen von der Länge lediglich eines Taktes einender gegenübergestellt werden, wie synthetisch anmutende Geräusche ausschließlich mit manuellen Mitteln erzeugt werden und somit nicht durch den Spamfilter fallen, wie das Piano dem Saxofon – nur um einen Wimpernschlag verzögert – in halsbrecherischem Tempo und völlig unisono eine regelrechte Verfolgungsjagd liefert, muss man erst einmal gehört haben.

Ja, in der Tat. Diese Musik hat etwas Visionäres an sich und macht zugleich ungeheuer Spaß. Das gilt für die CD-Fassungen der insgesamt 14 Stücke des Projekts, mehr aber noch für deren ausgedehnte Live-Versionen. Wenn man Parisien dabei zusehen kann, wie er mit vollem Körpereinsatz zu Werke geht oder dem personifizierten Chronometer Julien Loutelier beim Umgang mit Becken und Trommeln, dann bekommt die Sache noch einmal eine ganz andere Dimension. Was für ein Konzert!