Maurice Ravel? Stammt von ihm nicht „Boléro“, eine dieser Kompositionen, die sogar Leute kennen, die sonst so gut wie gar nichts kennen aus dem Bereich der Klassik? Stimmt, und das kommt nicht von ungefähr. Frank Zappa und Colosseum haben das Stück für den Rock-Kontext aufbereitet, Jacques Loussier tat nämliches einst für den Jazz, und Dieter Ilg widmet dem großen Impressionisten (1875 – 1937) aktuell ein ganzes Album und ein Konzert im restlos ausverkauften Neuburger Birdland Jazzclub.
Ravel zieht das Publikum an. Gleiches gilt für den Jazzer Ilg, der ähnliches wie hier auch schon mit Beethoven, Bach, Verdis Otello und Wagners Parzival ins Werk gesetzt hat, so dass sich im Gewölbe unter der ehemaligen Hofapotheke an diesem Abend wieder mal zwei Fraktionen treffen und am Ende treulich vereint begeisterten Applaus spenden. Ilg, der Geschichtenerzähler am Kontrabass, hat die Arrangements geschrieben, Rainer Böhm, der am Flügel beidhändig seine Kreise zieht und mit all seiner Klasse dafür sorgt, dass das Konzert nicht nur die Jazz meets Klassik-Freunde anspricht, sondern auch in die Reihe „Art Of Piano“ übernommen wird, ist überragend. Und Schlagzeuger und Perkussionist Patrice Héral sorgt mit all seiner Kreativität und seinem an Facetten so überreichen Spiel dafür, dass so manche der Kompositionen Ravels klingt wie gerade eben neu für diesen Abend geschrieben.
Ravel, der zusammen mit George Gershwin schon mal durch die Jazzclubs New Yorks gezogen ist, um sich dort Duke Ellington anzuhören, ist Jazz nicht fremd. Vielleicht eignet er sich deswegen so gut für die Bearbeitung Ilgs. Im Laufe des Abends stellt sich immer wieder die Frage: Wo hört Ravel auf, wo fängt Ilg an? Die Antwort ist müßig, denn hier geht es nicht um trennende Elemente, sondern um verbindende. Der Klassikfreund erkennt natürlich die Themen von „“Pavane Pour Une Infante Défunte“, des „Valse II“ oder des „Adagio Assai“ auf Anhieb, wer lieber Jazz hört, erfreut sich an den von Ilg perfekt in die Abläufe eingebetteten Soli. Noch interessanter freilich als das ist die Art und Weise, wie alles an diesem Abend auseinander hervorgeht, wie selbstverständlich sich alles bedingt, wie Grenzen ignoriert werden und mit welcher Eleganz hier auf Schubladen gepfiffen wird.
Das Klangbild ist edel. Böhm findet für jede Passage den idealen Anschlag. Warm, zärtlich oder kraftvoll, zupackend. Héral ist ein technisch extrem guter Drummer, der mächtig Gas geben kann, aber die Passagen, in denen er als der für das Intro Verantwortliche scheinbar auf der Suche ist, bevor er sich auf eine rhythmische Variante festlegt, sind noch beeindruckender. Und Ilg, der Mann mit dem wunderbar warmen und doch so kräftigen Sound, gibt die Richtung vor. Seine Umspielungen der Ravel’schen Themen, seine begleitenden Patterns und seine niemals überladenen Soli sind absolut beeindruckend.
Und „Boléro“? Der Klassiker darf natürlich nicht fehlen. Die meisten Einspielungen setzen auf die enorme Power des Stücks. Ilgs Version an diesem Abend hingegen ist eine wunderschöne Alternative. Fast scheu outen sich Thema und Rhythmus, fintenreich und durchsetzt mit neuen Ideen zuhauf, läuft Ravel’s Paradestück bei Ilg neben der üblichen Spur ab. Tolle Version! So kann es gehen, wenn Seelenverwandte sich nach 100 Jahren treffen.