Charles Tolliver’s „Paper Moon“ | 03.11.2019

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Nur neun Tage nach dem Black Art Jazz Collective kreuzt schon die nächste schwarze Supergroup im Neuburger „Birdland“ auf, diesmal allerdings ein Generation älter. Noch ein Zeichen für die aktuelle Relevanz des amerikanischen Jazz, bei dem afroamerikanische Musiker wieder verstärkt zu ihrer wirkungsvollsten „Waffe“ greifen und ihre gesamte Kreativität und Power in die Waagschale werfen. Nie und nimmer hätte man aber von Charles Tolliver, dieser stets ein wenig unter dem Radar segelnden Avantgarde-Ikone aus den 1960-er Jahren, eine Allstar-Band wie „Paper Man“ erwartet, deren Protagonisten einen Teil der Jazzgeschichte mitgeschrieben haben. Und auch der Boss selbst mit seinen 77 Jahren überrascht mit seiner forschen, zupackenden Attack an der Trompete, mit permanenten Feuerstößen ins Gewölbe des Hofapothekenkellers, das trotz des ungünstigen Sonntagstermins nahezu ausverkauft ist.

Beste Koordinaten also für ein feines, streckenweise grandioses Hardbop-Konzert, das zwar unverkennbare Ecken, Kanten und Schwächen aufweist, aber vor allem in punkto Energie einen Maßstab setzt, den selbst die „Jungen“ in der Vorwoche nur ganz schwer erreichen konnten. Natürlich darf man nicht unter den Tisch fallen lassen, dass die Satzarbeit zwischen Tolliver und dem Altsaxofonisten Jesse Davis (54) gelegentlich einige ziemlich schiefe Töne hervorbringt. Oder dass die mitunter extrem krachende Schlagzeugbegleitung von Lenny White (69), dem legendären Drummer bei Miles Davisʼ Jahrhundertwerk „Bitches Brew“, der immer noch gegen imaginäre Fusion-Mauern anzutrommeln scheint, eine weitere Ikone, nämlich Bassist Buster Williams (77), „unhörbar“ werden lässt.

Wenn Williams jedoch soliert, mit Zeige- und Mittelfinger wuchtig gedrechselte, dunkle Linien modelliert, dann entfaltet sich die ganze Genialität dieses kleinen Mannes, der nicht nur Herbie Hancock zu seinen größten Fans zählt, in wenigen Sekunden. Auch Pianist Keith Brown, mit seinen 34 Lenzen der Benjamin des Quintetts, erweist sich mit souligen Patterns als perfekter emphatischer Helfershelfer beim Erreichen der Ziele der „zornigen alten Männer“. Allein das Tempo, in dem Tolliver gegen das Gewitter von White in „Hit The Spot“ anbläst, die Rasanz, mit der er und Davis flirrende Motivketten zu einem extrem groovenden Soundmobile zusammenbinden, sorgen immer wieder für enthusiastischen Zwischenapplaus. Im zentralen Thema „Paper Man“ jagt der Trompeter gemeinsam mit dem Altsaxofonisten Papiermännchen und andere Fabelwesen. Good Cop-bad Cop: Das Wechselspiel funktioniert perfekt. Während Jesse Davis seine Rolle mit seinen bekannt warmen gleißenden Linien ausfüllt, steht Charles Tolliver breitbeinig und zu allem entschlossen da und erinnert dabei ein wenig an den berühmten farbigen Polizisten John Shaft.

Dass die Combo von Song zu Song mehr in Rage kommt, an Intonationssicherheit gewinnt und am Schluss mit einer abgefahrenen Fassung der Monk-Ballade „Round Midnight“, die nicht ganz unbeabsichtigt wie ein Alptraum daherkommt, einen grandiosen Schlusspunkt setzt, gehört mit zur fast perfekten Inszenierung. Ein wertvoller, würdevoller und extrem intensiver Abend mit einer wichtigen Erkenntnis: Der amerikanische Jazz lebt! Auch dank seiner schon vergessenen Helden.