Cecil Taylor – Tony Oxley Duo | 14.10.2011

Augsburger Allgemeine | Reinhard Köchl
 

Warten auf Cecil. Kommt er oder kommt er nicht? Schon eine halbe Stunde über der angekündigten Zeit. Kaum jemand im seit Wochen restlos ausverkauften Neuburger Birdland-Jazzclub weiß, was sich gerade abspielt, doch jeder ahnt, dass er gleich etwas Ungewöhnlichem, vielleicht sogar etwas Großem beiwohnen wird. Die Verspätung ist Teil eines akkuraten Vorbereitungsprozesses, der Exerzitien am Flügel, selbst am Nachmittag vor dem Konzert, Konzentration und Reflexion umfasst. Wochenlanges Leben in zwei Stunden Musik verdichtet.

Dann öffnet sich das hölzerne Portal des Hofapothekenkellers und er erscheint tatsächlich, der pianistische Godfather des Freejazz, der Maximo Leader einer Revolution, die im Wesentlichen ein Aufschrei des Sounds der Saxofone war: John Coltrane, Albert Ayler, Ornette Coleman. Belanglos. Der Pianist Cecil Taylor hat sich nach einem halben Jahrhundert von jedem Lexikoneintrag, von jeder Kategorie gelöst. Manche mögen es nach wie vor Freejazz nennen, andere hören seine klassische Ausbildung heraus, erkennen Bartok und Chopin in Verbindung mit klassischen Elementen des Jazz. Aber es ist längst die Welt des Cecil Taylor, sein eigener Kosmos, den man sehen muss, wenigstens einmal im Leben, um zu begreifen, was da zu hören ist.

Ein kurzes Sammeln im Büro des Jazzclubs, dann schlurft der 82-Jährige unauffällig die Treppen hinunter auf die Bühne, die staunenden Fans aus ganz Deutschland und die Mikrofone ignorierend, die das Ereignis für das 1. Radio Jazz Festival des Bayerischen Rundfunks aufzeichnen, nimmt Platz, um wieder einmal ein Publikum zu verstören, zu paralysieren, sprachlos zu machen. Tief über den Bösendorfer gebeugt, der ihm bei den Proben manch wohliges Lächeln entlockte, tupfen seine Finger über die Tasten. Er streichelt sie, schleicht förmlich von einer Note zur anderen, lockt, überredet, bespricht das Elfenbein. Das hätte man nicht erwartet. Cecil Taylor, vor dessen brachialer Gewalt Clubbesitzer einst gar ihre Flügel wegsperrten, gibt in Neuburg den Lyriker, überrascht durch einen enorm sensitiven Anschlag. Erst gründelt er im Bass-Register, suchend, albträumend, einsam. Eine mystische Ouvertüre voller nicht gespielter Akkorde und Geistertriolen, ein Ertasten des Raumes, der Atmosphäre.

Jeder Ton klingt für sich, ist präzise zu vernehmen, und verbindet sich doch in zunehmend rasender Geschwindigkeit mit 87 anderen. Eine Bewegung, die von den Füßen, den Zehen ausgeht, sich über den Körper fortsetzt, bis sie in den Fingerspitzen endet, die Taste trifft. Derweil sitzt Langzeitpartner Tony Oxley, der mehr Geräusche als Drumbeats kreiert, auf einem Hocker und wartet. Als der Amerikaner beginnt, die Klaviatur wie eine Wendeltreppe rauf- und runter zu flitzen, rührt sich auch der smarte Engländer auf Betriebstemperatur. Ein völlig entswingtes Mit-, Gegen- und Auseinander, das vor allem durch die unfassbare Kreativität des Pianisten lebt.

Themen tauchen immer wieder auf, nachdem man dachte, sie verloren zu haben, Klangfarben, die links als Akkorde gespielt wurden, erscheinen rechts als extrem schnelle chromatische Läufe. Melodien reduzieren sich auf ein, zwei Töne, dazwischen bleiben Räume, werden Cluster eingeschoben, die nicht mit der Handfläche oder dem Arm angeschlagen, sondern durch Einzelnoten in rasender Geschwindigkeit erzeugt werden, bis sie als einzige Klangfläche zu hören sind. Es ist ein Spiel von Ruf und Antwort, von korrespondierenden Klängen, von Spannung und Entspannung, eingebettet in ein ganz bestimmtes System: das System Cecil Taylor.

Ein Abend der Extreme. Ein Konzertabend? Keine CD könnte den Eindruck konservieren, den dieses unbeugsame, altersunmilde Energiebündel da vermittelt. Es ist ein visuelles Ereignis, wie Cecil Taylor mit tausend schnellen Fingern die Tasten bespringt, wie er in großen Atembewegungen Räume öffnet. Räume, die man sehen muss, um sie zu hören. Es geht nicht um Verstehen im Sinne von Beherrschen, sondern um Erfahren von musikalischen Architekturen, von Licht durchfluteten Zimmern, dicht gefüllten Kammern und langen Fluren.

Wie Tänzer versuchen, sich von den physischen Beschränkungen zu befreien, so hat sich Taylor von den Grenzen des Klavierspielens gelöst. Dazu gehören auch seine Gedichtrezitationen. Genuschelte, geschriene oder geflüsterte Poems mit modulierter Stimme in 20-minütiger Länge, selbst für des Englischen mächtige Bildungsbürger schlechterdings unverständlich. Man ahnt aber anhand der intensiven Körpersprache, dass hier weit mehr als nur esoterisches Brimborium abläuft. Es sind Prophezeiungen und Visionen, Plädoyers für Liebe und Zärtlichkeit.

Es gibt nicht wenige Spezialisten im aufgewühlten Birdland, die am Ende des bewegenden Auftritts behaupten, dass dies womöglich das letzte Deutschland-Gastspiel Cecil Taylors gewesen sein könnte. Wenn dem tatsächlich so ist, dann war es ein würdiger Abschied. Ihn wenigstens einmal zu sehen und zu hören, heißt die Grenze der Musik überschritten zu haben.