Brazilian Guitar Duos | 20.12.2002

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Irgendwie sind wir doch alle schizophren: Du versuchst, dich langsam auf Weihnachten einzustellen, hoffst auf ein bisschen Schnee und gehst dann in ein Konzert mit brasilianischer Gitarrenmusik. Stille Nacht am Zuckerhut, Oh du Fröhliche beim Karneval in Rio, zwei Stunden das Gefühl von Sommer, Sonne, Meer bei Schmuddelwetter und Minusgraden draußen vor der Tür? Gegensätze eignen sich nicht immer auf Anhieb, um sonderbare Verhaltensweisen wie diese zu erklären.

Aber auch an der Copacabana gibt es am 24. Dezember Christbäume. Und es gibt Lieder in den Häusern: romantische, überschwängliche, verzweifelte, politische. Der Gemütszustand eines ganzen Volkes spiegelt sich in den Facetten seiner Musik, die tiefe Saudade der brasilianischen Seele. Besonders vor dem fest erfährt sie stets eine ungeahnte Intensität. Der virtuose Balanceakt zwischen tiefer, fast spiritueller Innerlichkeit und schier berstender Äußerlichkeit, der sich in Noten und Gesängen entlädt: ihn aufzusaugen, ein Stück dieser kostbaren Mitte zu erhaschen, nach der wir uns vor allem in der krankhaften hektischen „staden Zeit“ immer wieder vergeblich sehnen, das treibt die Menschen wohl gerade jetzt zuhauf in den Neuburger „Birdland“-Jazzclub zu einem Konzert wie dem von Oscar Ferreira und Martin Müller.

Der eine ein waschechter Brasilianer aus Sao Paulo, der sein Handwerk bei Isaias Savio und Alfredo Scupinari, zwei der bedeutendsten Gitarrengurus seines Heimatlandes, erlernte, der andere ein „authentischer“ deutscher Fingervirtuose mit klassischer Ausbildung und geschickt kaschierter Jazzsucht. Seit 1989 zeichnet das scheinbar gegensätzliche Duo leise, leidenschaftliche Stimmungsbilder voller Dynamik und Spannung, voller Hingabe und Forscherdrang, voller Empfindsamkeit und Professionalität.

Ein kleines, großes Ensemble, das sich auf zwölf Stahlsaiten scheinbar mühelos durch die gesamte brasilianische Literatur manövriert, die schwebend leichte, manchmal bittersüße Poesie der Kompositionen von Djavan, Ivan Lins, Egberto Gismonti, Gilberto Gil und Antonio Carlos Jobim mit all ihrer Melancholie und den Sehnsüchten eins zu eins ans Auditorium weitergibt. Ferreira und Müller erzählen von der Alchemie der Zeit, von Begegnungen und Abschieden. Und sie beflügeln damit die Fantasie ihrer Zuhörer auf eine Art und Weise, die jeder klassischen deutschen Weihnachtsfeier gut zu Gesicht stünde.

Die Rollen könnten nicht geschickter verteilt sein: Beide greifen, umgarnen oder schlagen die akustische Gitarre nach dem Vorbild von Heitor Villa-Lobos, Müller erklärt behutsam die weitgehend unbekannten portugiesischen Texte, Ferreira singt. Unprätentiös, schlicht, aber vor allem bei Liebesliedern unglaublich berührend. „Verliere keine Zeit, Fisch zu sein, wenn du schon Meer geworden bist“, lautet eine Zeile aus „Tempo Escondido“ (Die Flüchtigkeit der Zeit), deren tiefe Bedeutung dank Ferreiras leidenschaftlichem Canto jeder im stecknadelstillen Hofapothekenkeller auf Anhieb versteht.

Das Duo der Emotionen, der wundersamen Gegensätze, zwischen Fern- und Heimweh, Erinnern und Vergessen, Feuer und Wasser, Brasilien und Deutschland trifft genau den Nerv des Publikums, das erst nach zwei Zugaben in die Realität zurück will. Mit einem Trost: Musik wie diese wärmt bis zum Heiligen Abend und weit darüber hinaus. Feliz Natal!