Bennie Wallace’s Coleman Hawkins Centennial Project | 05.11.2004

Neuburger Rundschau | Dr. Tobias Böcker
 

Schon der Anblick des Nonetts wirkt überwältigend im doch relativ kleinen Jazzclub, von den berückenden Klangfarben der Arrangements ganz zu schweigen. Noch dazu besticht diese musikalische Beinahe-Hydra mit ihrer sechsköpfigen Frontline aus derart profunden Könnern ihres Fachs, dass bei jedem Solo ein Schaudern durch’s Birdland weht. Beim “Coleman Hawkins Centennial Project” des Weltklasse-Saxophonisten Bennie Wallace gab sich eine Band der Superlative am Vorabend ihres Auftritts beim Jazzfest Berlin ein Stelldichein ohne Netz und doppelten Boden in der intimen Atmosphäre des Neuburger Jazzkellers.

Wenn es um Soloinstrumente im Jazz geht, dürften die meisten Zeitgenossen an das Saxophon denken. Nicht zu Unrecht, denn Abertausende von Solisten widmen sich dem Rohrblattinstrument, das eine so große Bandbreite an individuellen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stellt wie kaum ein anderes. Dabei kam das Saxophon erst relativ spät zu jazzigen Ehren. Der erste, der es salonfähig machte und zu einem ernsthaften Soloinstrument auf den Schild hob, war der 1969 verstorbene Coleman Hawkins, sozusagen der „Erfinder“ des Jazzsaxophons. Dessen 100. Geburtstag steht dieser Tage an. Ihm widmete Bennie Wallace, einer der bedeutendsten Tenorsaxophonisten der Gegenwart, mit einer handverlesenen Band im Birdland Jazzclub eine äußerst beeindruckende Hommage mit Hawks Lieblingstunes und -riffs.

„All the Things You Are“ ist so ein altes Schlachtross, das in ungeahnter Frische über den Platz galoppiert. Jedes Solo eine kleine Sensation: Sei es die rotzig-hymnische Kraft von Ray Andersons straßenstaubender Posaune, die strahlend heiße Trompete Terell Staffords, das schnittige Altsaxophon von Brad Leali, das fingerknotend zaubernde Piano von Donald Vega, das beflügelte Baritonhorn Adam Schroeders, das soulful geblasene Alto von Jesse Davis oder eben das Tenorsaxophon von Bennie Wallace. Hinter dessen seidenweichem Ton steckt ein stahlhart entschlossener Biss, der keine Kompromisse kennt, die Geschichte von hinten aufrollt und ihre Quintessenz auf den Punkt bringt, hier und heute, splitterfaserklar. Wallace‘ Sound nähert sich Coleman Hawkins in schon fast unheimlicher Weise an ohne die eigene Persönlichkeit hintan stehen zu lassen, macht gleichzeitig die einstige Rivalität zwischen Hawkins und Lester Young vergessen in einer apotheotischen Synthese des Besten beider. Dahinter zaubert eine Rhythmusgruppe mit Danton Boller am Bass und dem hart swingenden Alvin Queen am Schlagzeug so viel Leben und Halt in den Background, das die Frontline selbst bei waghalsigsten Pirouetten gar nicht scheitern kann.

In dem alten Spiritual „Joshua Fit the Battle of Jericho“ sind der Schlachtenlärm und die Unerbittlichkeit des Großstadtlebens ebenso präsent wie der zähe Wille es zu überstehen und die Hoffnung auf Zukunft. Fats Wallers „Honeysuckle Rose“, eine der leichtherzig-sehnsuchtsvollsten Kompositionen der Jazzgeschichte, entfaltet sich aus einem innigen Piano-Intro zu orchestraler Fülle der Klangfarben und unwiderstehlich rasant swingender Bewegung, featured eine klassische Alto-Battle und mündet in einen fulminanten Solo-Staffellauf aller Neune, der den Club förmlich in Flammen setzt. Gleich darauf haben die beiden Primi inter Pares Bennie Wallace und Ray Anderson ein reibeisig duettierendes Date, mischen Ballsaal und Straße zu unwiderstehlichem Leben. Hawk wird’s dort droben mindestens ebenso genossen haben wie die Fans im Keller unter der Hofapotheke. Und Eins ist klar, wenn selbst die Musiker auf der Bühne und ihre kiebitzenden Kollegen im Publikum sich zu immer breiterem Grinsen bewegt sehen: Das Jazzherz der Region schlägt in Neuburg!