Die Barfußfrau hat jetzt Schuhe an. Ist vielleicht auch bequemer, als in einem Kellergewölbe ständig ohne Schutz auf einem blanken Steinboden herumzulaufen, zu tanzen und dabei noch zu singen, wie sie das früher und unter großer Anteilnahme der Birdland-Besucher getan hat. Aber Anna Lauvergnac ist nicht mehr ganz dieselbe, die bei ihren bisherigen Gastspielen in Neuburg – dem bislang letzten nur wenige Wochen vor Ausbruch der Pandemie – in schöner Regelmäßigkeit für Begeisterungsstürme sorgte. Natürlich älter – was auch für ihr Publikum zutrifft –, aber auch ein bisschen ruhiger, per se keineswegs schlechter, vielleicht etwas mainstreamiger, nicht mehr ganz so straight und ohne die für sie lange übliche Kiste voller Überraschungen im Reisegepäck.
Und wie ihre Füße scheint auch ihre Stimme inzwischen irgendwie domestiziert zu sein, eingesperrt, so, als könnte sie sich nicht mehr beliebig dorthin bewegen, wo sie gerade will. Das war in den vergangenen Jahren anders. Da segelte die im italienischen Triest geborene und von der legendären Sheila Jordan unter ihre Fittiche genommene Vokalistin wie ein Vogel durch die Themen, ließ sich treiben, selbstvergessen, versunken, schwere- und willenlos. Der Inbegriff von künstlerischer Freiheit. Nun agiert Anna Lauvergnac zwar immer noch wuselig, aufgedreht, aber auf bislang eher ungewohnte Weise routiniert; ausgerechnet die Frau, die wie ein Kobold aus der Kiste jedes Konzert zu jeder Sekunde neu zu erfinden schien. Hinter ihr agiert mit enormer Prägnanz und Souveränität ihr längst etabliertes Begleittrio mit ihrem musikalischen Dauerpartner, dem abermals hinreißenden Piano-Faktotum Claus Raible, dem klug Linien zusammenknüpfenden Bassisten Giorgos Antoniou sowie dem extrem mannschaftsdienlich agierenden Schlagzeuger Xaver Hellmeier.
In den ersten beiden Songs „The Very Thought of You“ und „Pick Yourself“ hat es fast den Anschein, als würde Anna Lauvergnac die Stimme wegbrechen. Aber das kommt einem durchaus vertraut vor, denn aus ihrer Unperfektheit verstand sie es bislang immer wieder, ein sympathisches, menschliches Gesamtbild modellieren zu können. Und dann fängt sie sich, bekommt die schwierige Anfangssituation in den Griff und beginnt, wie immer mit dem Publikum zu spielen, kokett mit Gesten und körpersprachlichen Elementen, erzählt viel zwischen den Stücken und beschreibt, worum es in ihrem bunten Strauß aus balladesken Standards wie dem rastlosen Schlaflied „Close Your Eyes“, dem spröden „Too Close to Comfort“ oder dem zweifelnden „This Cant Be Love“ geht: nur um Liebe. Es ist Lauvergnacs Lebensthema. Mach die Augen zu, denn schöner kann es nicht werden. Oder: Komm mir nicht zu nahe, weil das einfach keine Liebe sein kann. Und es klingt einmal mehr, als wisse die Frau ganz genau, worüber sie da singt.
In rigiden Up-Tempo-Nummern versucht sie sich gegenüber dem homogenen, druckvoll groovenden Trio, bei dem vor allem Claus Raible immer wieder kleine instrumentale Preziosen ins Geschehen wirft, zu positionieren, erreicht aber nicht immer dessen Intensitätslevel. Freilich gibt es auch hier die gewohnten Ausnahmen: den „Hum Drum Blues“ oder die fulminante Zugabe „Music Is“, eine feine Eigenkomposition von Lauvergnac und Raible. Aber irgendwie mag der Funke an diesem Abend nicht so recht ins Publikum überspringen. Ihre leicht laszive, mitunter herbe Altstimme verfehlt ein paarmal die richtigen Töne, doch auch das kennt man noch von früheren Auftritten.
Am Schluss bleibt die Gewissheit, dass man bei einem durchaus guten, soliden Konzert mit dabei sein durfte. Aber eben bei keiner Sternstunde, wie das früher oft der Fall war. Völlig normal bei einer intuitiven Künstlerin wie Anna Lauvergnac, die in ihrem Gesang immer wieder ihre Tagesform durchscheinen lässt. Denn in erster Linie ist auch sie nur ein Mensch.