Anja Lechner – Vassilis Tsabropoulos | 05.12.2003

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Gegensätze schaffen Akklimatisierungsprobleme. Die Besucher hüsteln, trinken, ratschen, fletzen sich in ihre Stühle, wie es hier eigentlich schon immer üblich war. Heute aber nicht, Herrschaften! Auch die Cellistin schießt anfangs ein wenig übers Ziel hinaus, weist die Bedienung sogar harsch an, während der Darbietung das Servieren einzustellen, weil sie dies stört. Dieses Konzert ist eine Novum, ein Lernprozess für alle Beteiligten: Erstmals nämlich gastiert mit Anja Lechner und Vassilis Tsabropoulos ein vom Ansatz her klassisches Duo im Neuburger „Birdland“-Jazzkeller.

Aber was heißt hier schon „klassisch“? „ECM“ würde viel besser als Motto passen, der Name jenes deutschen Plattenlabels, das seit über 30 Jahren für grenzüberschreitende Projekte zwischen neuer und alter Musik, Improvisation und Etüde, Jan Garbarek und András Schiff steht. Unter dem elitären Firmendach in Gräfelfing haben auch die Münchnerin Lechner, Mitglied des Rosamunde Quartetts, sowie der Athener Tsabropoulos, einer der am hellsten leuchtenden Sterne am europäischen Pianohimmel, eine künstlerische Heimat gefunden.

Das Duo gestattet sich bei aller gegebener Formstrenge Emotionalität im Überfluss. Gabriel Faurés Élégie op. 24 etwa wird von einer ganz seltenen, in solchen Kontexten bislang noch selten zuvor gefühlten Spannung getragen, die sich von den allermeisten Interpretationen der Neuen Musik deutlich abgrenzt. Lechner/Tsabropoulos liegt weniger daran, etwas scheinbar Perfektes nachzuäffeln, sondern einen eigenen Weg zu suchen. Sie markieren ihn mit Lichtern, Lampions – „Trois pièces“ von Nadja Boulanger – oder massiven Steinen wie in Caesar Francks fulminanter Sonate in A-Dur. Nabelschau ist nie das Ziel, obwohl das deutsch-griechische Tandem spieltechnische Perfektion im Überfluss besitzt. Diese hilft ihnen vielmehr dabei, enorm intensive, fast greifbare Stimmungen zu evozieren, Farben zu erzeugen, Geschichten zu erzählen: eine Fähigkeit, die der moderne Jazz sein eigen nennt.

Wie feiner Sand durch ein Stundenglas rinnen die Sätze von George I. Gurdjieffs „Bayaty No. 35. Lechners beherzt gesetzter Strich voller tastender Eleganz gibt Tempo und Dramatik vor, die Tsabropoulos kühn und hintergründig kontrastiert. Am beeindruckendsten geraten die „Fünf Masken“, fünf byzantinische Hymnen, die seit 2000 Jahren zur Osterzeit ausschließlich in orthodoxen Kirchen gesungen werden. Das Duo verschiebt sie behutsam in weltliche Sphären. Dabei entsteht ein polychromatisches Mosaik, in dem beide improvisieren, ohne sich jemals den Schablonen des Jazz zu nähern, das sie mit luftigen Lyrismen ausschmücken, ohne dabei in folkloristischen Pathos zu verfallen, und mit dem die Wurzeln griechischer Musik in die Gegenwart verpflanzt werden, ohne sie ihrer Identität zu berauben.

Wenn die Instrumente wie Edelleute einherschreiten, erhaben, zu allem entschlossen, dann übertreten sie ganz bewusst die Trennlinie. Dann hämmert Vassilis Tsabropoulos mit der Radikalität eines Cecil Taylor in die Tastatur, dann schneidet Anja Lechner ihr Pizzicato mit der Leidenschaft einer Bluesmusikerin in den Steg.

Die erste von zwei Zugaben nach nicht enden wollendem Beifall gerät zwar ein wenig süßlich-kitschig, beschließt aber eine Reise, mit welcher der Pianist und die Cellistin gerade in einem Jazzclub dann doch wieder am Anfang angelangt sind. Sie spielen miteinander, experimentieren, lassen dunkle Wolken aufziehen und wieder verschwinden, vergießen jede Menge improvisatorisches Herzblut: Es hätte auch von Ellington stammen können.