Albert Mangelsdorff – Nachruf | 01.09.2005

Jazzthetik | Reinhard Köchl
 

Es gibt Aufträge, um die würde man sich lieber drücken. Das hier ist so einer. Ein Nachruf. Lobhudeleien, die viel zu spät kommen. Warum erst immer in der Stunde Null? Als einmal jemand sagte, mir würde so etwas liegen, beschloss ich, das mit den Nachrufen bleiben zu lassen. Feuilletonistische Grabreden. Die meisten kupfern sowieso nur Biografisches ab, verkleistern es noch mit ein paar salbungsvollen, stereotypen Adjektiven und haben dann wieder einen unter die Erde geschrieben. Pflicht erfüllt. Liest sich so kalt und lieblos wie die meisten Sonntagspredigten oder der Dax-Streifen auf N24. Viele fühlen sich berufen, Nachrufe zu schreiben. Über Leute, die sie niemals kannten, von denen sie allenfalls einmal etwas lasen, die im besten Fall irgendwann an ihnen vorbeigingen. Vielleicht hörten sie auch irgendwo von irgendwem, was diese Leute taten. Fachkundig nennt man so etwas. Das Beispiel Albert Mangelsdorff hat leider wieder viele solcher gedruckten Überflüssigkeiten ans Tageslicht gebracht. Und jetzt noch eine?

Ich war keiner dieser so genannten Vertrauten, keiner aus der Frankfurter Gegend. Ich weiß nicht, wo die Emil-Claar-Straße liegt oder die Bockenheimer Straße, stamme aus einer völlig anderen Generation als er und habe erst relativ spät die Tür zu Mangelsdorffs Musik gefunden. Getroffen habe ich ihn dennoch. Drei, vier Mal, als er schon über 70 war. Sogar einige Worte habe ich mit ihm gewechselt. Stets aus der distanzierten Perspektive des fragenden Journalisten, der auf ein paar zitierfähige Antworten seines Gesprächspartners hofft. Lernt man dabei schon einen Menschen kennen?

Den Musiker Albert Mangelsdorff habe ich 1975 kennen gelernt. Mehr durch Zufall. Eigentlich interessierte mich seine LP The Wide Point nur deshalb, weil darauf Elvin Jones mittrommelte. Für einen autodidaktisch im Dunstkreis einer Schülerband dahin dilettierenden Schlagzeuger das Vorbild schlechthin. Die Posaune: Nebensache. Aber interessant. Ein Freund schenkte mir dann zwei Jahre später Live im Schützenhaus vom United Jazz & Rock Ensemble. Gefiel mir nicht besonders. Ich behielt die Scheibe dennoch, weil etwas Deutsches neben Zappa, Little Feat und Captain Beefheart ganz gut passte. Auch da spielte Mangelsdorff mit. Diesmal achtete ich mehr auf ihn, weil mir sein Spiel inzwischen sogar ein wenig vertraut schien. Die erste persönliche Begegnung sollte allerdings noch 23 Jahre auf sich warten lassen: Juli 2000 in Ludwigsburg, unmittelbar nach Ende der Aufnahmen für das Old Friends-Projekt. Mangelsdorff mit anderen Granden des teutonischen Jazz: Wolfgang Dauner, Klaus Doldinger, Eberhard Weber, Manfred Schoof und Wolfgang Haffner. Ein Gipfel der Platzhirsche. Nur er stand irgendwie drüber. Lässig, souverän, bescheiden. Alle sagten nur: Der Albert. Wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich blieb bei Herr Mangelsdorff.

Die Aufgabe war so anspruchsvoll wie undurchführbar: Die sechs Herren sollten sich beim Abendessen in einem noblen Restaurant unterhalten. Über Gott, die Welt und Jazz natürlich. Smalltalk, Höflichkeiten, Promotion für jenes Projekt, das zurecht den Namen German Jazz Masters trug und fast zwangsläufig die besondere Betonung des Deutschen im Jazz mit sich brachte. Mangelsdorff hatte so etwas nie gemocht. Für ihn war das Ding mit der Posaune keine patriotische Angelegenheit. Nicht 1958, als er mit 29 Jahren als einziger seines Landes von George Wein und Marshall Brown in die Newport International Band berufen wurde. Auch nicht im deutsch-französischen Jazzensemble, dem Globe Unity Orchestra, dem Phon Lang Orchestra aus Hanoi oder im United Jazz & Rock Ensemble. Schon gleich gar nicht bei seinen zahllosen Jams mit den Amerikanern Louis Armstrong, John Lewis, Lee Konitz, Dizzy Gillespie, Don Cherry, Jimmy Smith, George Russell Jaco Pastorius, Alphonse Mouzon, Elvin Jones, John Scofield oder Chico Freeman, den Franco-Italienern Aldo Romano, Jean-Francois Jenny-Clarke, Michel Portal und Pierre Favre, dem Engländer John Surman, dem Österreicher Hans Koller, dem Jugoslawen Dusko Goykovich, dem Ungarn Attila Zoller, dem Schweizer Reto Weber, den Skandinaviern Bent Jaedig, Anders Jormin und Arild Andersen oder dem japanischen Pianisten Masahiko Sato. Auch auf seinen Tourneen, die ihn in alle Kontinente führten, verstand er sich während keines einzigen Solos als Botschafter, als Posaunicus Germanicus. Albert Mangelsdorff war – wenn man diesen einschlägig belasteten Begriff so abwandeln darf – tatsächlich einer der ersten Global Player. Für ihn gab es weder deutschen noch europäischen Jazz. »Das sind doch alles Individualisten, die das spielen«, sollte er ein paar Jahre später seine weltumspannende Familie verteidigen. »Ob die nun aus Europa, Amerika oder Japan kommen, das merkt keiner auf Anhieb.«

Er hörte sich den unwiderstehlich in eine Richtung treibenden Diskurs eine Weile an, nippte ein paar Mal am Rotweinglas. Nach 20 Minuten hatte der Tisch seine erste Schmerzgrenze erreicht: das ewige Lamento über die vermeintliche Ungleichbehandlung gegenüber amerikanischen Jazzmusikern. Jetzt beendete Mangelsdorff sein Schweigen. Obwohl er wie immer leise sprach, verstummten alle. »Die ganze Sache mit der fehlenden Präsenz im Rundfunk, bei eigenen Festivals: Das passiert doch in anderen Ländern genauso. An diesem Tisch sollte sich keiner über fehlende Anerkennung beklagen. Jeder von uns hat sich irgendwann mal durchgesetzt!« Das saß. Einen zaghaften Einwand, dass dies ja viel früher geschehen sei und sich die Zeiten längst geändert hätten, wischte er wie einen Kuchenkrümel vom Tisch. »Stimmt durchaus, dass man damals bei Kritikern nichts galt, wenn man nicht wie der oder jener Amerikaner spielte. Wir alle hier haben das aber selbst geändert. Inzwischen sind auch unsere Kritiker weiter. Die meisten vergleichen einen deutschen Musiker nicht mehr nur mit amerikanischen Vorbildern, sondern legen durchaus eine andere Elle an; die zwischen gut und schlecht, zwischen eigenständig und abgekupfert.«

Das blieb mir in Erinnerung. Wie dieser aufrechte, stets gradlinige Herr sogar Journalisten in Schutz nahm. Die natürlichen Feinde der Musiker. Nach einem Verriss hasst sie jeder. Aber man braucht sie auch, ob als Steigbügel für die Karriere oder als Alibi für das eigene Versagen. Mangelsdorff brauchte weder das eine noch das andere. Er bewahrte Haltung, nicht nur an diesem Tag in Ludwigsburg. Die These einer eigenen europäische Jazzwelle, welche angeblich die Amerikaner überrollt hatte, nannte er »überheblich«. Schließlich lenkte ich das Gespräch auf Till Brönner. Ein bewusst gesetztes Reizthema, das Leben und Emotion in den eindimensionalen Gesprächsverlauf bringen sollte. Keiner der Sechs hatte selbst einen so rasanten Karrierestart hingelegt. Mangelsdorff hielt sich zurück. Die Tafelrunde endete vorzeitig, weil sie sonst wahrscheinlich einen – vorsichtig formuliert – brisanten Verlauf genommen hatte.

Tags darauf saß ich wieder in meiner bayerischen Tageszeitungsredaktion, die Gedanken völlig abseitig in verkehrsberuhigten Zonen und ICE-Trassen versunken, als es am frühen Nachmittag klingelte. »Dou is a Herr Mangelsmeier oder so ähnlich am Dellefon«, nuschelte die Sekretärin im schmerzhaftesten Mittelfränkisch, bevor mir ein bekanntes, sonores, angenehm babbelndes Hessisch aus der Leitung entgegen kam. »Ich würd` Sie herzlich bitten, wenn ich gestern etwas Blödes über den Till Brönner gesagt haben sollte, das nicht zu bringen. Ich hab nämlich überhaupt nichts gegen ihn.« Irgendwo hatte er meine Nummer herbekommen. Es trieb ihn um. Nichts Schlimmeres als ein falscher Eindruck. Etwas, das Andere möglicherweise als Neid, Missgunst oder gar Bitterkeit interpretieren könnten. Solche Wesenszüge waren einem wie ihm fremd. Dabei hatte er sich doch kaum über Brönner geäußert. Nur ein Satz, der hatte Tiefenwirkung. Aber er ging vielleicht gerade deshalb in dem allgemeinen Tohuwabohu unter. Er könne doch auch von den jungen Musikern der aktuellen Generation erwarten, dass diese sich wie er selbst damals Ideale schafften und nicht nur dem schnellen Erfolg hinterherliefen. Denn sonst würde sich nie mehr etwas Neues, etwas Eigenes entwickeln. »Lassen Sie`s am Besten ganz weg. Das missverstehen sowieso alle.«

Das war es. Ideale schaffen. Wenn Albert Mangelsdorff das von einem überreich talentierten Jungen einforderte, dann wusste er ganz genau, wovon er sprach. Schließlich hatte er dies selbst ein halbes Jahrhundert lang getan, vom ersten bis zum letzten Posaunenzug. Etwas Neues, etwas Eigenes entwickeln – genau darum ging es! Für den Mann aus Frankfurt das Credo seines gesamten künstlerischen Lebens. Ein frei schwebender Posaunist, einer der sich nie fangen oder festlegen lassen wollte. Einer, der zu jener Phase seiner Karriere Hunger auf Abenteuer hatte. Der sich nicht kaufen ließ. Und bei allem was er machte, stets aufrichtig war. Bei wirklich allem. Ein Anarchist mit Heiligenschein. Deshalb riefen ihn Freude St. Albert. Und sie meinten das wirklich so.

Nach seinem Tod stand oft zu lesen, er sei tief im Herzen ein Cooljazzer geblieben, nur weil er einmal in einem Interview Lennie Tristano als Vorbild nannte. Doch das wäre allenfalls an der Oberfläche gekratzt. Er spielte ebenso gerne mit dem Freejazz-Raubein Peter Brötzmann wie mit seinen langjährigen Freund Wolfgang Dauner, dem Klangmaler am Piano. Wer ehrlich auf ihn zukam, der bekam eine Chance. Selbst der Ruhrpott-Schlagerrocksänger Klaus Lage, mit dem er 1990 die LP Tooty Root aufnahm. Beileibe kein Schandfleck in seiner gigantischen Diskografie. Die oft zu Unrecht als kommerziell verschriene Arbeit im United Jazz & Rock Ensemble bereitete ihm mindestens genauso viel Spaß wie seine frühen, in der Radiolandschaft der 50er und 60er geradezu revolutionären Experimente mit dem Jazz-Ensemble des Hessischen Rundfunks oder das launige Blasen über Computerprogramme in Shake, Rattle And Blow (1999) mit Bruno Spoerri. Diese souveräne Unbefangenheit lehrte er als Professor in Frankfurt und praktizierte sie als Programmmacher des Berliner Jazzfestes. Wer sein grandioses Quintett um Heinz Sauer, Günter Kronberg, Günter Lenz und Ralph Hübner und solch legendäre Platten wie One Tension (1963), Now Jazz Ramwong (1964) und Folk Mond & Flower Dream (1967) über die späten Konzerte der Old Friends stellte, der verglich Äpfel mit Birnen. Denn für Mangelsdorff ging es sowohl Mitte des 20. wie Anfang des 21. Jahrhunderts ausschließlich um Integrität. Die jeweilige Musik, so schien es, war immer nur ein Produkt, das der Zeitgeist als Rohstoff zur Verfügung stellte. Was allein zählte, war, diesen individuell und originell zu formen.

Jeder wusste, dass er wie ein Berserker arbeitete, übte, probierte, perfektionierte. Meistens schon nach dem Frühstück im Frankfurter Jazzclub. Seine berühmten Multiphonics, diese auf Differenztonbildung aufgebaute, mehrstimmige Eigenart, bei der Mangelsdorff eine Note sang und eine spielte. Dadurch entstanden Obertöne und Akkorde. Doch, doch, die Multiphonics waren seine Erfindung. Auch wenn die Technik bereits im 19. Jahrhundert von Hornisten praktiziert wurde. Er trieb sie zum Exzess, formte eine neue Posaunensprache, füllte im Alleingang ganze Hallen mit seinen Hardcore-Improvisationen und erhob sich zum führenden Vertreter seines Instrumentes. Gerade weil er es seinen Zuhörern nie leicht machte, sie förmlich dazu zwang sich mit seiner Musik auseinander zu setzen. Auf charmante Weise. Albert Mangelsdorff gewann unzählige Preise, Kritikerpolls und – was niemand erwartet hatte – als erster Deutscher den ungeteilten Respekt seiner amerikanischen Kollegen. Einmal, da dachte er sogar kurzzeitig daran, seine künstlerische Basis in die Staaten zu verlegen. Aber in Mainhattan, seiner Geburtsstadt, konnte seine Kunst einfach besser gedeihen. Hier kannten sie ihn, hier konnte er Künstler sein und vor allem Mensch. Und hier baute er sich, obwohl er genau das Gegenteil im Sinn hatte, ein Denkmal, das weit über die kleinen Grenzen seines Genres, diese fast schon inzestuöse Hermetik des Jazz hinausragte.

Das letzte Mal habe ich Mangelsdorff im September 2004 gesehen und gehört. Mit Dauner, Haffner, Christof Lauer und Dieter Ilg war er in das Donaustädtchen Neuburg gekommen. Dort, wo sich seit Jahrzehnten einer der schönsten Jazzclubs Europas hält und der Stein 1962 ausgerechnet mit dem Albert Mangelsdorff-Quintett ins Rollen kam. Das Konzert hob die moralischen und kulturellen Grundfeste einer biederen bayerischen Kleinstadt aus den Angeln. Seither ist Jazz in Neuburg ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens. Für Club-Manager Manfred Rehm, der den Skandal damals als 20-Jähriger selbst miterlebt hat und bei jeder Gelegenheit stolz ein Fotoalbum mit Bildern der schlanken, im dunklen Anzug angetretenen Musiker herzeigt, spielte Mangelsdorff natürlich wieder seine Komposition Danke, Hut ab! Eine längst zum Ritual gewordene Geste an alle Senkrechten, an die Stehaufmännchen, die diese Musikrichtung auch in schweren Zeiten über Wasser gehalten haben. Und der gerade 76 Jahre alt gewordene Leitwolf des deutschen Jazz, dieser unscheinbare Weltstar ohne Allüren und Exzesse meinte das auch so.

In jenen Spätsommertagen schien Mangelsdorff noch ganz der Alte. Zwar leiser im Ton und reduzierter in seinen Einsätzen, aber offenbar ganz gut erholt von einem Treppensturz, bei dem er sich das Handgelenk gebrochen hatte, von Gürtelrose und seinen vorübergehenden Stimmbandproblemen genesen. Der Regisseur Julian Benedikt (Blue Note – A Story Of Modern Jazz) nutzte die Gelegenheit, um ihn vor dem Konzert für seine mehrteilige Fernsehdokumentation über die Geschichte des europäischen Jazz Play Your Own Thing direkt am Ufer der Donau zu filmen. Ein Gespräch, bei dem Mangelsdorff wieder einmal jedes Wort abwog, wie er dies auch auf der Bühne mit seinen Tönen tat. »Warum Jazz?« wiederholte er gedankenverloren eine Frage. »Na ja, ich hab nie was Besseres gelernt.« Um dann doch Substanz hinterherzuschicken: »Es ist die rhythmischste Art von Musik, die es gibt. Sie bietet dem Interpreten eine Art von Freiheit, die er nirgendwo anders findet. Als ich zum aller ersten Mal Jazz gehört habe, ist mir das in die Glieder gefahren. Das hat mich derart gepackt, dass ich davon nicht mehr losgekommen bin.« Als die Kamera abgeschaltet wurde, muss er die Bedeutung dieses Anlasses geahnt haben. »Schon fertig, Herr Benedikt? Wir hätten ruhig noch weiter reden können.« Eines seiner letzten Interviews, vielleicht sogar das letzte. Wenige Wochen später überrumpelte ihn die hoffnungslose Diagnose.

Seine Familie, seine Freunde, alle Musiker, die mit ihm spielten, alle Menschen die ihn hörten, der gesamte Jazz wird ihn vermissen. Auch ich werde Albert vermissen. Nach diesem Artikel möchte ich ihn so nennen dürfen.