Abbey Lincoln | 03.11.1999

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Keine Norm greift an diesem Abend im Neuburger „Birdland“, kein Vergleich mag auf Anhieb passen. Die Sängerin stöckelt nicht wie das Gros ihrer Zunft erhobenen Hauptes Richtung Bühne, zieht nicht gewaltsam alle Blicke auf sich. Abbey Lincoln ist einfach da, aufgetaucht, wie die Morgensonne am Horizont, völlig ohne manieriertes Vorgeplänkel.

Auf einem Hocker sitzend, schüchtern lächelnd und versonnen dem Intro ihres Trios um Marc Cary, diesen grandiosen Pianisten-Newcomer mit den Rastalocken, den baumlangen Bassisten John Ormond und den sensiblen Drummer Aaron Walker, glaubt man zu erkennen, daß sie jeden Moment ihrer Arbeit liebt. Ein schwarzer Samthut bedeckt die zahllosen Zöpfchen, ihr schwarzes Outfit glänzt auf seltsam mystische Weise im atemlosen, vollen Hofapothekenkeller. Dennoch: hier stellt sich keine Säulenheilige zur irdischen Begutachtung vor, sondern eine Künstlerin aus Fleisch und Blut. Mithin die vielleicht bedeutendste noch lebende Sängerin des Jazz.

67 Jahre zählt Abbey Lincoln inzwischen, doch sie sieht immer noch aus wie nur wenige Frauen mit 37. Fast ein Wunder bei all den erfahrenen Widrigkeiten, Problemen, Kämpfen, Rückschlägen. Sie wechselte viermal ihren Namen, verdingte sich als Showgirl, war mit dem Drummer Max Roach verheiratet, der sie zu einer der kulturellen Gallionsfiguren der amerikanischen Schwarzenbewegung erhob, versank wieder in Unbekanntheit und feierte ein triumphales Comeback. Genügend Stoff, um zurückzublicken. Also resümiert sie mit ihrer Musik, erzählt Geschichten. Sie singt ihr Leben.

Wenn sie so vor dem Mikrophon steht, bereit, ihr Innerstes nach Außen zu kehren, wirkt Abbey Lincoln fast beklemmend verwundbar. Die warme, leicht brüchige Altstimme strahlt eine gewisse erfüllte Müdigkeit, eine weise Entspanntheit aus. Ihre fragile Art, in Noten von Geschehenem zu berichten, weckt Bilder, rührt den Zuhörer an seiner Wurzel. Die Lincoln ist ein Spiegel der Vergangenheit, ebenso wie ihre Kunst Vergangenheit ist, ohne freilich irgendeine Lebenslüge darin zu verbergen.

1997 singt sie sanftmütig, ohne eine Spur ihrer früheren politischen Aggressivität, einfach songorientiert. Sie will nicht mehr dekonstruieren, nicht Musik, Kunst und Kultur als öffentliche Person hinterfragen, nicht Strukturen zerstören und damit offenlegen. Sie hat sich auf das Heilen verlegt. Und kommt dabei ihrem erklärten Vorbild Billie Holiday, einer der tragischsten Figuren des Jazz, immer näher. Im Ausdruck, in ihrer emotionalen Kraft, in ihrer ganzen Verletzlichkeit.

Dieses unerklärbare Gefühl, das Titel wie „God Bless The Child“ oder „Love Say Goodbye“ ausstrahlen, hat unter Garantie jeder schon irgendwann mal am eigenen Leib verspürt. Doch die Songs umkreisen lediglich Grauzonen und münden in eine eigenartige Form von Frieden. Unprätentiös, wie es eben ihre Art ist, macht Abbey Lincoln selbst vor einst unantastbaren Grenzen des Jazz nicht halt. Bob Dylans „Mr. Tamborine Man“ wirkt, von ihr destilliert, wie eine Distel: stachelig, schön, zum Zugreifen verlockend.

Nach 40 Jahren mühevollen Suchens geht bei Abbey Lincoln nun alles seinen vorbestimmten Weg. Sie befreit ihre Musik, ihre Ideale von Zwängen und Vorurteilen, bleibt offen bis zuletzt. Nach dem Ende eines großes Konzertes, das zweifellos auch den enormen Verlust für Ingolstadt vor Augen führte, wo Abbey Lincoln ursprünglich als erstes Highlight der Jazztage vorgesehen war, erhebt sie die Faust zum „Black Power“-Gruß. Nicht aus der Distanz, sondern am Rande des Zuschauerraums. Auf einer Ebene mit ihren Fans.