Bennie Wallace’s Coleman Hawkins Centennial Project | 05.11.2004

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Der Schock saß tief. Noch am Mittwoch während des Fluges von der amerikanischen Ostküste Richtung München kam das Wahlergebnis. „Unfassbar, ich glaube es nicht“, murmelte Bennie Wallace, wie seine Kollegen Unterstützer des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten John Kerry, Primus inter pares und derzeit weltbester Tenorsaxofonist, später im Laufe seiner Neuburg-Tage immer wieder vor sich hin.

Die Proben zum ehrgeizigen „Coleman Hawkins Centennial Project“, für die sich das prominent besetzte US-Nonett drei Tage lang im „Birdland“-Jazzkeller verschanzt hatte, verliefen ausdauernd, langwierig, routiniert, aber ohne richtigen Spaß. Bis das Konzert am Freitagabend kam. Es war als eine Art Generalprobe für das Berliner Jazzfest gedacht, wo die tapferen Neun aus Bush-Land tags darauf mit ihrer Huldigung zum bevorstehenden 100. Geburtstag des Tenorsaxofon-Denkmals Coleman Hawkins (21. November) den Topact geben sollten. Doch im Prinzip fand die Premiere schon jetzt statt.

Proppenvoller Club, prickelnde Gänsehautatmosphäre, fast greifbare Spannung: hier lag etwas in der Luft. Etwas, das kein Veranstalter so hätte inszenieren können. Eine kreative Explosion, Frustentladung, das Freispielen von trüben Gedanken. Oder, um es mit Bennie Wallace zu sagen: „Etwas, dass uns weitermachen lässt, trotz aller Lügen, Dummheit und scheinheiligem Moralismus.“

Das Gastspiel von Wallace, Ray Anderson (Posaune), Terrell Stafford (Trompete), Jesse Davis, Brad Leali (beide Altsaxofon), Adam Schroeder (Baritonsaxofon), Donald Vega (Piano), Danton Boller (Kontrabass) und Alvin Queen (Drums) bleibt wahrscheinlich allen Beteiligten noch lange in Erinnerung – wegen der äußeren wie inneren Umstände. Schon der furiose Beginn barg mehr Brisanz, als das Gros dessen, was heute so alles unter dem Siegel „Jazz“ über deutsche Bühnen hüpft.

„Disorder at the Border“, der selten gespielte, rattenscharfe Hawkins-Titel, taucht da wie ein Komet auf: hell, lodernd, heiß. Die Musiker feuern sich gegenseitig an, federn lässig ihre Sätze aus der Hüfte. Sturzbäche von Schweiß rinnen in die eleganten Hemdkrägen, ein Wahnsinnssolo jagt das andere. Hier spielt sich eine Band – mit Verlaub – den Arsch ab: ehrliche, authentische Laborarbeit am mitnichten toten Objekt.

Quicklebendig wird dieser Hawkins durch die behutsam-zupackende Behandlung von Wallace und Co. Bis auf ganz wenige Ausnahmen stammen die raffinierten Arrangements aus der Feder des (in Amerika gebliebenen) Gitarristen Anthony Wilson. Sie ranken sich um die im Originalzustand belassenen Riffs von „Bean“ (so Hawkins` Spitzname), umspielen sie kunstvoll und setzen im Sinne des Geehrten völlig neue Akzente. Labsal für Traditionalisten wie Modernisten gleichermaßen.

Da bläst Stafford auf seiner Trompete fulminant Attacke, Leali reicht seinem Altopartner Davis das Feuer, der entfacht die Lunte, Schroeder an der Bariton-Brummaxt füllt das Fass mit Pulver, Vega am Piano lässt die Funken durch ein hinreißend brodelndes Pianosolo überspringen und Mastermind Wallace sorgt schließlich für die fulminante Entladung. Und das gleich mehrmals. Beim normalerweise eher beschaulichen „Honeysuckle Rose“, beim fett dahin groovenden „Bean and The Boys“ oder bei Hawkins Lieblings-Gospel „Josua fit the Battle of Jericho“. Der kommt durch den Wahnsinns-Posaunisten Anderson und dem unentwegt galoppierenden Drummer Queen so richtig in Fahrt, bis Wallace dem Ganzen die Krone aufsetzt. Wie mit einem Atommeißel zerhackt, zerreißt, zerschießt er das Thema, um es plötzlich mit einem einzigen, wundersamen Zauberlick wieder zusammenzufügen.

Der Mann kann schlicht alles. Inmitten des Pausenlärms steht er plötzlich mit Pianotrio auf der Bühne, ringt die Tischgespräche in wenigen Sekunden nieder und intoniert eine Ballade, so sanft, so rein, so luftig, dass es dem diesmal als Gast anwesenden Pianisten Claus Raible spontan entfährt: „Der spielt nicht nur die Sachen von Hawkins, der klingt sogar schon wie er!“

In der Tat: Selten waren die Katakomben des Kellers einsturzgefährdeter, selten das Publikum enthusiastischer und selten kam Musik so unmittelbar und ohne Reibungsverlust bei den Menschen an. „Wir wollen gerade jetzt zeigen, dass es in Amerika auch noch Fantasie, Kunst und schöne Dinge gibt“, erklärt Bennie Wallace nach 40 Minuten frenetisch erklatschter Verlängerung. „Wie Coleman Hawkins eben.“ Und diese grandiose Band. Jede Wette: Das beste Konzert dieser bewegten Tage des Jazz.