Geschichte

Reinhard Köchl:
Wie das Neuburger „Birdland“ seit Jahren erfolgreich dem grassierenden Jazzclubsterben trotzt

Irgendwie klang es wie eine Drohung. „Jazzclub, das System, das sich selbst auffrißt,“ titelte der Essayist Wolfgang Bauer im März 1992 in der Kulturzeitschrift „Du“ und ließ dem markigen Line-Up eine Zustandsbeschreibung folgen, wie sie gnadenloser kaum sein könnte. Nichts, aber auch rein gar nichts, außer blindem Idealismus könne diese leicht konspirativen Treffpunkte für Fossile einer längst verblichenen Ära von Swing und Bebop zeitweilig noch am Leben erhalten. Der Kritiker Siegfried Schmidt-Joos erklärte in seinem Buch „Jazz – Gesicht einer Musik“ die historische Mission der Clubs, den unpopuläreren Modern Jazz quasi pädagogisch an den Fan zu bringen, für beendet. „Viele dieser Einrichtungen erstarren in gesellschaftlicher Betriebsamkeit und Vereinsmeierei.“ Der Jazzclub habe sich überholt, sei nicht mehr rentabel und de facto tot.

Zur gleichen Zeit schickte sich in Neuburg einer dieser unverbesserlichen Abenteurer wie jeden Monat an, Programm zu machen. Der Februar war ausgesprochen gut gelaufen, Gigs von Klaus Doldinger, der Gitarren-Legende Charlie Byrd und einigen unbekannteren Nachwuchstalenten hatten seinen gerade mal ein Jahr alten Veranstaltungsort, den Keller unter der Hofapotheke, stets bis auf den letzten Platz gefüllt. Andere Gastspiele, wie die von Tete Montoliu, Harry „Sweets“ Edison und Gonzalo Rubalcaba kündigten sich bereits durch ausgesprochen rege Nachfrage an. Während draußen im Land einige emsig an den Leichenreden für die Institution „Jazzclub“ feilten, war drinnen im „Birdland“ die Welt noch in Ordnung. Und sie ist es kurioserweise noch immer – bis zum heutigen Tag.

Daß sich der vermeintlich totkranke Patient gerade inmitten des historischen Ambientes von Renaissancebauten, Kirchen und Ottheinrichs Prunkschloß so quicklebendig präsentiert und immer wieder frische Kräfte sammelt, liegt an einigen charakteristischen ortsspezifischen Begebenheiten. „Wir vermeiden eben die Fehler der anderen und haben obendrein auch noch ein bißchen Glück“, sagt Manfred Rehm, der Vorsitzende des „Birdland“-Jazzclubs. Seinen eigenen Anteil am überraschenden Aufschwung, der dem 90 Plätze umfassenden Kellergewölbe im Herzen Bayerns inzwischen sogar den Ruf des vielleicht schönsten und stimmungsvollsten Jazzclubs in Süddeutschland eingebracht hat, unterschlägt Rehm dabei geflissentlich. Aber ohne ihn, den Motor, Antreiber und (keinesfalls blinden, sondern vielmehr pragmatischen) Idealisten hätte die kühne Idee, Jazz in einer Kleinstadt wie Neuburg zu etablieren, längst in aller Stille zu Grabe getragen werden müssen.

Wie schon einmal Mitte der 60er Jahre, als der „gemeinnützige Verein zur Förderung und Pflege der Jazzmusik“ nach kurzer Lebensdauer in einen Dörnröschenschlaf fiel. 1958 mit hehren Ambitionen ins Leben gerufen, um den aus Amerika importierten Jazz-Bazillus auch hierzulande zu verbreiten, „sich vom Rock`n`Roll sowie anderen Radaufabrikaten grundsätzlich zu distanzieren,“ (so die damalige Begründung in der Lokalpresse), aber auch, um dem eigenen inneren Widerstand gegen die Provizialität und das Spießbürgertum der Nachkriegsära Ausdruck zu verleihen, ebbte das Interesse der Mitglieder recht schnell wieder ab. Spätestens mit dem Wegzug von Vereinsgründer Helmut Viertl nach Burghausen (wo dieser Jahre später die berühmten „Burghausener Jazztage“ ins Leben rief) war die Zeit der fröhlichen Riverboat-Shuffles auf der Donau, der grüblerischen Diskussions- und Plattenabende im „Cafe Huber“, der „Rennbahn“ oder im „Fuchsbräukeller“, der unvergeßlichen Duke Ellington-Konzertbesuche in München oder die in der Kleinstadt damals noch heftig umstrittenen, weil jede Norm sprengenden Gastspiele von Albert Mangelsdorff (1961) und Co. vorüber. Das Häuflein vormals junger Wilder verlief sich in alle Himmelsrichtungen, der nach dem großen New Yorker Vorbild benannte „Birdland“-Jazzclub schloß seine Pforten. Eine Idee zerplatzte wie eine Seifenblase, bevor sie überhaupt jemand richtig zur Kenntnis nehmen konnte.

Übrig blieb lediglich Manfred Rehm. Schon bei der Gründung war er als 18jähriger dabei. Das jähe Ende schmerzte den mitten in der Berufsausbildung stehenden jungen Mann mehr, als die vielen Freunde aus dem bunten Neuburger Jazzvölkchen. Rehm blieb all die Jahre über weiter am Ball, vertiefte sich im Alleingang in die Materie, organisierte als Einzelkämpfer gelegentlich Konzerte und witterte 1985 mit der Neueröffnung der „Schönen Aussicht“ die Chance, im Keller des Speiselokals direkt neben den Kegelbahnen den zwei Jahrzehnte zuvor fallengelassenen roten Faden wieder aufzugreifen. Die Situation ähnelte frappierend der von 1958: quasi aus dem Stand gelang es, eine stattliche Zahl von Interessenten für die Sache des Jazz zu begeistern. Ansonsten wenig Neues: einige spektakuläre Konzerte überdeckten die harte Kärnerarbeit des Alltags, Standortwechsel blieben die Regel, immer wieder tauchten in der Bürgerschaft Argwohn und Ignoranz auf, es gab sogar Wetten über den Zeitpunkt, wann der Jazzclub abermals den Zustand der Karteileiche erreichen würde.

Nur eines hatte sich verändert: die Person des Vorsitzenden. An Manfred Rehms Beharrlichkeit und seinem manchmal fast stoischen Gleichmut prallten fast alle Schwierigkeiten ab wie Regentropfen. Mit Engelszungen warb er um Vertrauen, überzeugte skeptische Mandatsträger vom kulturpolitischen Wert des Vorhabens und gewann nach und nach Sponsoren. Vor allem Letztere spielten im Konzept des Mannes, dem sie zwischenzeitlich den Ehrentitel „Impresario“ verpaßt hatten, eine entscheidende Rolle: sie fungierten als eine Art Fallschirm für das notorische Draufzahlgeschäft eines Jazzclubs. Denn die Einnahmen können selbst bei florierenden Besucherzahlen nicht einmal im Ansatz dessen Ausgaben abdecken, von denen die Gagen allenfalls die berühmte Spitze des Eisberges darstellen.

Die Kostensituation sei ein Faß ohne Boden geworden, seufzte vor einem Jahr Gerry Hayes, Schlagzeuger und Betreiber des alterwürdigen Schwabinger Jazzlokals „Allotria“, nach dem dritten und endgültigen Aus seines Sorgenkindes. Die Posten auf der Sollseite der Bilanzen summieren sich tatsächlich bedrohlich: zum einen der Transfer – sei es die für Künstler aus Übersee unumgängliche Variante mit dem Flugzeug oder die günstigere Lösung mit dem Auto – dann Gema, Übernachtungen, Verpflegung und neuerdings die gepfefferte Ausländersteuer. Um das Programm doch irgendwie durchzuziehen, greifen Clubs und Szenekneipen in ihrer Not oft zu faulen Kompromissen. Häufigste Beispiele: um allzu hohe Gema-Gebühren zu vermeiden, werden mancherorts die Musiker gebeten, bekannte Kompositionen auszusparen und besser auf eigene Titel zurückzugreifen. Zur Schonung des Budgets buchen Veranstalter dürftige Absteigen, das Klavier entpuppt sich beim näheren Hinsehen als billiger, verstimmter Klimperkasten, die Musiker spielen „auf Kasse“ oder für Dumping-Löhne, was die Betroffenen über alle Maßen frustiert und sich prompt in lustlosen Darbietungen niederschlägt. Ein Teufelskreis, der letztlich auch das Publikum miteinbezieht. Dieses fühlt sich schlecht bedient und beschließt unter Garantie, den nächsten Abend anderweitig zu verbringen.

Vielleicht hätte der „Birdland“-Jazzclub trotz vieler guter Vorsätze ein ähnliches Schicksal wie nahezu die gesamte, in den 60er und 70er Jahren boomende Münchner Clubszene mit In-Lokalen wie „Domicile“, die „Jazzstube“, „Gerry`s Scotchkneipe“ oder neuerdings die „Unterfahrt“, erlitten, wenn Manfred Rehm nicht 1990 ein fürwahr seltenes Glückslos in die Hände gefallen wäre. Als die Probleme wieder einmal aus allen Fugen zu geraten drohten – die Brauerei hatte gerade den Pachtvertrag für das mühevoll hergerichtete Vereinslokal „Cocodrillo“ an der Luitpoldstraße gekündigt, das kurzfristig bezogene Ausweichdomizil „Kajüte“ erwies sich als atmosphärisch ungeeignet – stieß der Vermessungsbeamte unerwartet auf ein längst vergessenes Juwel. Der Ingolstädter Manfred Bartl hatte die 1783 erbaute Hofapotheke in der Altstadt erworben und bei Sanierungsarbeiten ein prächtiges Kellergewölbe mit Rundbögen freigelegt. Obwohl der neue Eigner dort ursprünglich eine Weinstube einrichten wollte, begeisterte ihn Rehm mit seiner Vision von modernem Swing in altem Gemäuer. Die Stadt half dem Jazzclub obendrein und mietete die illustre Räumlichkeit zusammen mit dem „Birdland“ an.

Seit Februar 1991 dürfen Manfred Rehm und seine Mitstreiter deshalb alle Negativtrends Lügen Strafen. Nun scheint ein großteils sorgenfreier Blick in die Zukunft möglich, weil keine Bleibe auf Zeit mehr zur Verfügung steht, sondern ein fester Platz, über dem längst das Damoklesschwert verschwunden ist. Der Club mit der feinen Akustik besitzt die Möglichkeit, wohldosierte Konstanz mit über 50 Events pro Jahr anzubieten. Regelmäßig am Wochenende (mit Ausnahme der Sommerpause) gibt es ein, manchmal auch zwei Konzerte. „Wenn wir mit dem Anspruch angetreten wären, täglich zu öffnen, hätte das gewiss fatale Folgen gehabt. Das Interesse hätte wahrscheinlich schon nach einem Monat nachgelassen,“ glaubt Rehm. Der Sponsorenpool hat sich weiter stabilisiert und langfristige Unterstützerzusagen abgegeben, die freilich eng an das Engagement Rehms gebunden sind. Denn sein Name steht für absolute Seriosität, hohe Qualität, verschwenderisches Herzblut und vor allem das „gewisse Etwas“, welches den Besuch im Hofapothekenkeller häufig zu einem Erlebnis der besonderen Art geraten läßt.

Dies sehen inzwischen auch Musiker von absolutem Weltrang so und fragen immer wieder zwischen Pflichtterminen an, ob sie nicht in dem Club auftreten dürfen, dessen berühmten Namen inzwischen selbst die pulsierende New Yorker Jazzszene als Geheimtip in Europa handelt. Selbstredend zu einem echten Freundschaftspreis, weil die Gigs im Neuburger „Birdland“ auch für die „Legends“ längst zu den wenigen angenehmen, fast schon erholsamen Seiten in einem immer härteren Business zählen. Nahezu das komplette „Who`s Who“ der real existierenden Jazzgeschichte kam seither in die Ottheinrichstadt: das „Modern Jazz Quartet“, Stephane Grappelli, J. J. Johnson, Ray Brown, Joe Pass, Lee Konitz, Elvin Jones, Milt Jackson, Tommy Flanagan, Nat Adderly, Buddy DeFranco, Kenny Burrell, Lou Donaldson, Michel Petrucciani, Roy Hargrove, Jim Hall, Paul Motian, Jimmy Giuffre – die Reihe ließe sich nahezu endlos fortsetzen.

Selbst scheinbar unnahbare Superstars tauen im Jazzbiotop des „Birdlands“ auf wundersame Weise auf. „Ich hatte niemals einen solch schönen Club ausgerechnet in Neuburg erwartet,“ schrieb beispielsweise der US-Trompeter Freddie Hubbard begeistert ins Gästebuch, während das schrullige, weitgereiste Bebop-Fossil Tony Scott den Ort mit dem Prädikat „The Best Ever“ adelte und die Sängerin Michelle Hendricks sich jubelnd an den historischen Namenspatron in Harlem erinnerte: „Birdland lives!“. Gerry Mulligan, der vielleicht größte Baritonsaxophonist aller Zeiten, bestritt hier 1995 zwei der letzten Auftritte seiner glanzvollen Karriere, verbrachte unbemerkt einen Kurzurlaub in der Umgebung und knüpfte enge Freundschaftsbande.

Solche Begebenheiten unterstreichen nachhaltig den Ausnahmestatus der Ottheinrichstadt in Sachen Jazz. Von „Provinz“ mag schon lange niemand mehr reden. Eher schon vom „weißblauen Mekka des Swing, Bebop und Modern Jazz“, das sich den Luxus eines hochwertigen Bösendorfer-Flügels und das Privileg eines eigenen Plattenlabels („Birdland Neuburg“) mit bislang fünf Veröffentlichungen, natürlich alle live, leistet. 1998 jährte sich der Gründungstag des Vereins zum 40. mal. Ob es ihm passte oder nicht: das Ganze geriet dann auch ein wenig zu seiner eigenen Lebensgeschichte. Der Erfolgstory eines Impresarios und seines Clubs.