Viktoria Tolstoy | 12.03.2004

Donaukurier | Reinhard Köchl
 

Es dauert lang, seltsam lang, fast zweieinhalb Stunden, bis sich endlich die Fesseln lösen. Erst in der Zugabe verdient sich Viktoria Tolstoy tatsächlich einige der überreich verteilten Vorschusslorbeeren. „Wonder why“ heißt das wunderschöne Stück, das sie mit ihrem gleißend warmen Organ in Bronze gießt, das sie lebt, als hätte sie all den darin enthaltenen Trennungsschmerz selbst am eigenen Leib verspürt. Wer allerdings genau hinhört, der merkt, dass es dabei im ausverkauften Neuburger „Birdland“-Jazzclub nicht swingt, sondern sanft schwebend popt.

Danach noch „I`m sorry Babe“, ein Blues, in dem die 29-Jährige endgültig alle Schleusen öffnet. Sie verbiegt sich, röhrt, spielt, schmachtet. Versöhnung pur mit dem Publikum, das zuvor lange Zeit relativ ratlos herumgesessen war, unter dem Stuhl stets die Handbremse suchend, um diese irgendwie zu lockern.

Warum Viktoria Tolstoy nicht gleich ihrem Vortrag diese überwältigende emotionale Farbenpracht angedeihen ließ, bleibt ein nur schwer erklärbares Rätsel. Denn eigentlich hat die Frau alles, um ein Publikum im Sturm zu erobern: überreiches Talent, messerscharfe Diktion, ein absolut gewinnendes Äußeres (wobei sie ihre Weiblichkeit nie plump in den Mittelpunkt rückt) und jede Menge Mut. Vielleicht liegt es ja an der Idee, die ursprünglich textlosen Songs aus der Feder des Pianisten Esbjörn Svensson zu vokalisieren, vielleicht auch an der Bürde ihres großen Namens. Schließlich ist die junge Frau tatsächlich die Ururenkelin des großen russischen Romanciers. Möglicherweise drückt sie gar die ihr zugedachte Rolle als skandinavische Antwort auf die Welle der amerikanische Möchtgern-Diven. Strahlend blonde Haare, blitzblaue Augen, eine pop-affine Stimme aus dem Dunstkreis des Elches: So etwas hört und sieht der Zeitgeist nur allzu gerne.

Denn Viktoria Tolstoy – soviel steht nach ihrem Gastspiel im Hofapothekenkeller fest – ist in erster Linie ein viel versprechendes Marketingkonzept. Eines, das hoffentlich noch die Zeit zur Reife und Entfaltung bekommt. Am augenblicklich Gebotenen gibt es kaum etwas zu mäkeln, aber auch nur wenig zu jubeln. Mit nordischer Kühle interpretiert sie die Songs Svenssons wie „Upside out“, „Love is real“ „Summer Calling“ und „Shining on you“ oder den Edel-Standard „Caravan“. Nur mit geschärften Sensoren lässt sich ein dezentes Soul-Glühen unter der Oberfläche erahnen, spürt man stille Implosionen, die eigentlich Blues-Ausbrüche hätten werden sollen.

Die Band um den viel zu dominant agierenden Pianisten Jacob Karlzon (vielleicht auch ein Grund?) sowie die sachdienlichen Minimalisten Hans Andersson (Kontrabass) und Peter Danemo (Drums) trennen die Strukturen auf wie einen Wollpulli. Am Ende bleiben wenig Groove, aber viele impressionistische Nebelschwaden übrig. Das Material offenbart unverkennbare Ermüdungserscheinungen: Die bittere Pille des Jazz, eingelegt in einen süßen Brei aus Pop. Tolstoys Lieder von einsamen Menschen, Spießer-Liebesglück und Sommergefühlen könnten berühren. Wenn sie denn nur, wie in den Zugaben, eine winzige Spur von Krieg und Frieden besäßen.