Wer den Fall „Webster“ wieder aufrollt, beschäftigt sich – obwohl dessen Protagonist bereits 1973 verstorben ist – nicht mit einem Cold Case. Nein, der Tenorsaxofonist Ben Webster ist einer der großen Helden des Jazz überhaupt, seine Persönlichkeit und seine Musik hallen nach bis heute und es gibt nur ganz wenige Tenoristen, die nicht von ihm profitiert hätten.
Stephan Holstein und seine Band namens „Swing Shift“ verbeugen sich an diesem Konzertabend im Birdland vor ihm, obwohl sich weder Geburts- noch Todestag jähren, sondern einfach „weil ich ihn bewundere und seine Musik liebe“, wie Holstein zugibt. Wichtig ist, wie Webster spielte, was er spielte und mit wem er spielte. Berühmt wurde er für seinen warmen Ton, für sein Genie hinsichtlich der perfekten Melodiebildung und seine stets spürbare Nähe zum Blues. Das führte ihn, der auch Klavier und Klarinette spielte, mit Oscar Peterson und Roy Eldridge zusammen, machte ihn zum Star im Orchester von Duke Ellington und schließlich zu einer Ikone des Swing.
Stephan Holstein, der zusammen mit dem Pianisten Heinz Frommeyer und der höllisch tighten und an diesem Abend richtiggehend über sich hinaus wachsenden Rhythmusgruppe mit dem Kontrabassisten Thomas Stabenow und dem Schlagzeuger Oliver Mewes zu hören ist, ist auf Webster’s Spuren unterwegs, spielt am Tenorsaxofon, an der B- und der Bassklarinette in seinem Sinne, spürt seinem Sound nach und seinem Stil, spielt Stücke, die auch Webster spielte und öffnet für manchen in Saal vermutlich die im Grunde wegen Webster’s Omnipräsenz im Jazz nie verschlossene Tür zu einer längst vergangenen Welt, hinter der man sich trotz des zeitlichen Abstands augenblicklich pudelwohl fühlt.
Maßgeblich dazu bei trägt Titilayo Adedokun, die aus Nashville, Tennessee stammt, in Deutschland lebt und eine ganz tolle Stimme hat. Webster arbeitete seinerzeit immer wieder mit Sängerinnen zusammen, und so ist Miss Adedokun der ideale Gast in Holsteins Band. Ihre große Stärke sind die Balladen, allen voran „In The Wee Small Hours Of The Morning“, Gershwin’s „Embreacable You“ und Ellington’s „Sphisticated Lady“, die sie absolut auf den Punkt bringt, ausdrucksstark, technisch perfekt und mit genau der richtigen Dosis an Bühnenpräsenz, die es braucht, um ab dem ersten Ton im Mittelpunkt zu stehen und trotzdem gleichberechtigter Teil einer absolut souverän funktionierenden Band zu sein.
Ihre Versionen von „April In Paris“ und „Our Love Is Here To Stay“ werden zu weiteren Glanzpunkten des Abends und
die von Holstein im Andenken an „zwei gute Freunde“, nämlich an Helmut Nieberle und Willi Johanns, intonierten Stücke „Sunday“ und „Bye Bye Blackbird“ zu sehr persönlichen Farewells. Natürlich hätte das Konzert auch ohne die Verbeugung vor Ben Webster funktioniert. Mit dieser sehr überzeugend agierenden und absolut kompetenten Band kann im Grunde nichts schief gehen, denn sie interpretiert die alten Klassiker auf eine doch ziemlich moderne Art, die nichts mit purer Nostalgie zu tun hat, dafür aber um so mehr mit zeitgemäßem Umgang mit zeitloser Musik. Respekt an alle Beteiligten!