Es geht um Kaskaden und Girlanden aus Tönen, aus scheinbar völlig planlos hingeschütteten Haufen, um Strukturen, die wie von selbst aus einer Art Ursuppe geboren werden, um akribisch gesetzte Akzente und behutsam aufgebaute filigrane Gebäude, die krachend in sich zusammenstürzen. Es geht um orgiastische Ausbrüche und subtile Linienführung, um hektische Betriebsamkeit, um musikalische Aktionen mit und sehr oft ohne konkrete vorherige Absprachen, die ganz einfach zugelassen werden, scheinbar nie und irgendwann doch zum Erliegen kommen.
An diesem Abend im Birdland Jazzclub in Neuburg verlieren die herkömmlichen Hörgewohnheiten des Publikums ihre Relevanz. An- und abschwellende Ereignisse an der Schnittstelle zwischen Modern, Avantgarde und Free Jazz beherrschen die Szenerie, ein Flow über gut 90 Minuten statt voneinander abgegrenzte Kompositionen. Um diese Art von Musik zu spielen, sind der legendäre Pianist Alexander von Schlippenbach (Jahrgang 1938), in dessen Kunst Thelonious Monk und Cecil Taylor gleichermaßen weiterleben, sein langjähriger Partner Rudi Mahall an diversen Klarinetten, dem ganz aktuell die mehrseitige Titelstory im Fachmagazin „Jazz Podium“ gewidmet ist, und die beiden Amerikaner Barry Altschul (Lee Konitz, Anthony Braxton) am Schlagzeug und Joe Fonda am Kontrabass angereist. Jeder der vier ist ausgewiesener Spezialist, wenn es um freie Spielformen und um von Solisten oder von Kollektiven egal welchen Umfangs improvisierte Musik geht. Von Schlippenbach selbst ist einer der letzten aus der so immens bedeutsamen ersten Generation des Deutschen Nachkriegsjazz und war seinerzeit einer der Hauptinitiatoren bei der Etablierung der freien Form in Europa. Sein und das Spiel seiner Kollegen, mit denen er zu einer untrennbaren Einheit verschmilzt, verdeutlicht seine Herkunft und bei aller Offenheit seine Unerbittlichkeit, wenn es darum geht, die Schwingungen des Augenblicks, die Anwesenheit dieser speziellen Musiker und die daraus resultierenden Vibes, die eigene Vita und die persönliche Haltung in Musik münden zu lassen, die in der Art, wie man sie im Birdland an diesem Abend hört, einzigartig und unwiederholbar bleibt. Es gilt das Jetzt, nicht irgendein Plan, an dem man sich strikt zu halten hätte.
Man hört aufeinander, übernimmt die Idee eines der Kollegen, reicht ein Motiv weiter, erinnert sich kurz an einen Standard aus alten Zeiten, baut ihn verklausuliert ins eigene Spiel ein, lässt dem, der besonders viel zu sagen hat, den Vortritt. An diesem Abend ist das Rudi Mahall, der sich jedoch nicht vordrängt, sondern anscheinend gar nicht anders kann, als regelrecht zu explodieren und folgerichtig als Individuum den meisten Platz bekommt. Das kann am nächsten Abend auf der nächsten Bühne ganz anders sein. Es ohne Eitelkeiten zuzulassen, zeugt von Größe.
Am Ende ist der Beifall heftig. Dass bei einem Konzert dieser stilistischen Ausrichtung, bei doch erwartbar eher schwierigem Stoff, der Club recht schnell ausverkauft sein würde, ist ja keine Selbstverständlichkeit. Welch positive Überraschung auch das!